Der diesjährige Nobelpreis für Medizin geht an die aus Ungarn stammende Biochemikerin Katalin Karikó und den US-Amerikaner Drew Weissman. Durch ihre Vorarbeiten wurde die Entwicklung von mRNA-Imfpfstoffen möglich, die Hoffnungsträger für die Bekämpfung zahlreicher Erkrankungen sind und im Zuge der Covid-19-Pandemie Millionen Menschenleben retteten. Das gab die Nobelversammlung des Karolinska-Instituts in Stockholm Montagmittag bekannt.

Die beiden Forschenden werden "für ihre Entdeckungen in Bezug auf Nukleosid-Basenmodifikationen, die die Entwicklung wirksamer mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 ermöglichten", ausgezeichnet, wie es in der offiziellen Begründung der Nobelversammlung heißt. "Durch ihre bahnbrechenden Erkenntnisse, die unser Verständnis der Wechselwirkung zwischen mRNA und unserem Immunsystem grundlegend verändert haben, trugen die Preisträger dazu bei, dass die Entwicklung von Impfstoffen gegen eine der größten Bedrohungen der menschlichen Gesundheit in der heutigen Zeit so schnell wie nie zuvor voranschreitet", würdigt die Nobelversammlung die Leistungen von Karikó und Weissman.

Video: Der Medizin-Nobelpreis geht an mRNA-Impfstoff-Forscherin Katalin Karikó und mRNA-Impfstoff-Forscher Drew Weissman.
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In einer ersten Reaktion zeigten sich Karikó und Weissman überwältigt von der Entscheidung. Auch angesichts der Schwierigkeiten, die sie im Laufe ihrer Forschungskarriere erlebt habe, äußerte sich Karikó sehr bewegt über die prestigereiche Auszeichnung. Auch die Tatsache, dass Karikó eine Frau ist und als ausländische Forscherin in unterschiedlichen Ländern tätig war, könnte ihr im Weg gestanden sein, eine angemessene akademische Position zu erlangen, wie Thomas Perlman, Vorsitzender der Nobelversammlung, bei der Bekanntgabe am Montag anmerkte.

Für die inzwischen vielgeehrte Forscherin Karikó gilt: "Wissenschaft ist Teamsport. Viele Menschen haben über Jahrzehnte in diesem Bereich geforscht, und wir bauen auf ihren Ergebnissen auf. Immer, wenn ich einen Preis annehme, tue ich das auch in ihrem Namen", wie sie im Mai vergangenen Jahres im STANDARD-Interview sagte.

Molekularer Durchbruch

Jahrzehntelang arbeiteten Karikó und Weissman daran, die sogenannte Messenger-RNA (mRNA) medizinisch nutzbar zu machen. In unseren Zellen übermittelt die mRNA genetische Codes für den Aufbau von Eiweißmolekülen, also Proteinen. Ließen sich diese instabilen Moleküle so verändern und in den Körper einbringen, dass die Zellen selbst einen "Impfstoff" gegen Viren oder andere therapeutisch relevante Substanzen herstellen?

Nobelpreise Medizin 2023, Katalin Karikó
Die ungarische Biochemikerin Katalin Karikó hat seit 2020 knapp 100 Auszeichnungen bekommen.
Foto: EPA/ROBERT HEGEDUS

Die Grundlage für diese Technologie haben Karikó und Weissman entwickelt. Bereits als Studentin war Karikó von den therapeutischen Möglichkeiten der mRNA überzeugt. Doch das Haupthindernis, das sich bei therapeutischen Anwendungen zeigte, bestand darin, dass eingebrachte fremde RNA gar nicht wirksam werden konnte: Sie löste Immunreaktionen aus und wurde schnell abgebaut. Ihr fachliches Umfeld glaubte nicht daran, dass sich die sensiblen Moleküle nutzen ließen – und entsprechend war es für die Grundlagenforscherin lange Zeit schwierig, Geldgeber für ihre Projekte zu finden.

Durch jahrelange Forschung gelang Karikó und Weissman der Durchbruch. Sie fanden eine Möglichkeit, die RNA so zu modifizieren, dass ihr Abbau durch den Körper verlangsamt wird und sie unbeschadet ins Zellinnere transportiert werden kann – ohne vom Immunsystem angegriffen zu werden. Die Arbeit dazu wurde im Jahr 2005 publiziert und ist seither mit etlichen Auszeichnungen bedacht worden.

Enormes Potenzial

"Entscheidend ist, dass es gelungen ist, Impfungen so schnell zu entwickeln", sagte die Mikrobiologin Gunilla Karlsson Hedestam vom Karolinska-Institut, die auch Mitglied der Nobelversammlung ist. Sie betonte auch, dass die Entwicklung weiterer Impfstoffe auf der mRNA-Basis rasant vorangehe. "Wir werden viele weitere mRNA-Impfungen sehen, vor allem gegen Infektionen. Der große Vorteil dieser Technologie ist, dass sie flexibel und schnell einsetzbar ist, man kann den Impfstoff schnell an neue Virusvarianten anpassen, wie das etwa bei Influenza nötig ist."

Karlsson Hedestam betonte auch die Forschungsfortschritte zu therapeutischen Impfstoffen bei Krebs und andere Erkrankungen. Dabei handle es sich um Vakzine, die nicht präventiv wirken, sondern die zur Behandlung bestehender Krankheiten eingesetzt werden können. Hier gebe es sehr vielversprechende Ergebnisse, gerade auch für personalisierte Therapien.

Nobelpreise Medizin 2023, Katalin Karikó
Drew Weissman wurde ebenfalls geehrt.
Foto: EPA/PACO PAREDES

Gamechanger in der Pandemie

Auf die neuen Möglichkeiten, die die Arbeiten von Karikó und Weissman bieten, wurde bald die Pharmaforschung aufmerksam: So boten Uğur Şahin und Özlem Türeci, die Gründer der damals noch recht unbekannten Firma Biontech, Karikó eine Stelle an, die sie 2013 antrat. Die Zusammenarbeit führte letztlich zur Covid-19-Schutzimpfung von Biontech und Pfizer.

Wie viele Todesfälle durch die Impfungen – konkreter: die 13 Milliarden Mal verimpften mRNA-Vakzine – verhindert wurden, lässt sich nicht so einfach sagen. Aber es gibt mehrere Studien und Schätzungen zu dieser Frage. Fachleute des Imperial College kamen im September 2022 im Fachblatt "The Lancet Infectious Disease" zum Schluss, dass durch die Covid-19-Impfungen knapp 20 Millionen Menschen vor dem Tod gerettet wurden. Dazu kamen natürlich auch noch Abermillionen von abgemilderten Krankheitsverläufen, die, abgesehen von den durch die Impfung verhinderten Ansteckungen, ebenfalls bei der Bewältigung der Pandemie halfen.

Eine Expertengruppe von WHO Europa um Margaux Meslé hat im März 2023 neue Berechnungen für Europa angestellt. Für ihre Studie werteten sie die wöchentlichen Todeszahlen und Impfraten in 26 europäischen Ländern und Regionen zwischen Dezember 2020 und März 2023 aus. Das Ergebnis: Die Covid-19-Impfstoffe haben allein in Europa mindestens eine Million Menschen vor dem Tod bewahrt. Indirekt gerettete Leben, etwa durch Entlastung der Intensivstationen und die sonst noch schlechtere Versorgung anderer Krankheiten, sind hierbei noch nicht mit eingerechnet. Da in Europa vor allem mRNA-Impfstoffe zur Anwendung kamen, ist deren Anteil an der Verhinderung von Todesfällen entsprechend höher.

Vielfach ausgezeichnete Forschende

Die gebürtige Ungarin Karikó (68) zog 1985 in die USA und forschte unter anderem an der University of Pennsylvania, wo sie 1998 Weissman traf. Um ihre Forschungsergebnisse in die Praxis umzusetzen, ging Karikó 2013 nach Deutschland zu Biontech, das neben Moderna den ersten zugelassenen mRNA-Impfstoff auf den Markt brachte.

Der US-Amerikaner Weissman (64) studierte Immunologie und Mikrobiologie an der Boston University und ist seit 1997 an der University of Pennsylvania, derzeit als Professor für Medizin an der Perelman School of Medicine. Seine Forschungsschwerpunkte sind Impfstoffentwicklung und Gentherapie.

Karikó und Weissman wurden für ihre Beiträge zur Entwicklung von mRNA-Impfstoffen schon vor dem Nobelpreis mit zahlreichen wichtigen Auszeichnungen geehrt. Ende 2021 erhielten sie den Lasker-DeBakey Clinical Medical Research Award, 2022 den Canada Gairdner International Award.

Nobelpreis Medaille
Der Nobelpreis in der Kategorie Medizin/Physiologie wurde am Montag vergeben.
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Preisgeld erhöht

Laureatinnen und Laureaten dürfen sich in diesem Jahr über eine Art Inflationsanpassung beim Preisgeld freuen. Die Summe pro Preis wird um eine Million schwedische Kronen auf elf Millionen Kronen angehoben, wie die Nobelstiftung im Vorfeld mitteilte. Das entspricht nach derzeitigem Umrechnungskurs knapp 925.000 Euro.

Üblicherweise werden die wissenschaftlichen Nobelpreise an eine bis drei Personen vergeben. Im Vorjahr durfte sich der schwedische Evolutionsforscher Svante Pääbo exklusiv über die Auszeichnung freuen: Pääbo, der 1997 erstmals Teile der DNA eines Neandertalers entschlüsselte und als Begründer der Paläogenetik gilt, wurde allein ausgezeichnet.

Die weiteren Preise

Nach der Bekanntgabe in der Preiskategorie Medizin oder Physiologie am Montag folgen die Kategorien Physik am Dienstag, Chemie am Mittwoch, Literatur am Donnerstag und Frieden am Freitag. Am Montag nächster Woche wird dann noch der von der Schwedischen Nationalbank gestiftete Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften vergeben.

Zeremoniell überreicht werden die Preise dann am 10. Dezember, dem Todestag des schwedischen Preisstifters und Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833–1896). Im Vorjahr wurde der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger gemeinsam mit dem Franzosen Alain Aspect und dem US-Amerikaner John Clauser mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet. (dare, trat, tberg, tasch, 2.10.2023)