Burgtheater Nebenwirkungen
Die Gemeinschaft an einer Schule, die sich offen und demokratisch, aufgeschlossen und achtsam wähnt, gerät bei einer Mumps-Epidemie an ihre Grenzen.
APA/BURGTHEATER/MATTHIAS HORN

Die medizinische Errungenschaft, mittels Impfungen Menschen gegen Krankheiten immun zu machen, wird nicht von allen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen geschätzt. Das hat die Covid-Pandemie der letzten Jahre gezeigt. Zu lachen gab es da nicht viel. Nachdem die Gefahr der Pandemie aber weitgehend reduziert scheint, zeichnet ein Theaterstück am Burgtheater die Kluft zwischen den Überzeugungen mit einem heiter-grotesken Grundton nach.

Uraufführung von Die Nebenwirkungen war allerdings bereits 2018. Da gab es noch kein Covid. Der US-amerikanische Autor Jonathan Spector hatte bei seinem Auftragswerk für das Theater in Berkeley die Mumps-Epidemie an einer Grundschule im Visier. Unter dem Originaltitel Eureka Days war es Off-Broadway zu sehen und 2022 erstmals auch in London. Bis auf den Schlusssatz hat der Autor an seinem Text nichts geändert. Die Analogien zur Covid-Pandemie sind dennoch markant.

Willkommen im Schuljahr 2018/19

Die deutschsprachige Erstaufführung von Jan Philipp Gloger (aus dem Englischen übersetzt von Frank Heibert) am Burgtheater könnte der Thematik wegen ein breites Publikum ansprechen. Andererseits auch einer übersichtlichen Inszenierung wegen, die das naturalistische Dialogtheater ernst nimmt.

Um einer platten Fernsehrealität zu entkommen, verweigert Gloger gemeinsam mit Bühnenbildnerin Marie Roth einzig die im Text vorgesehene Vollausstattung einer Schulbibliothek. Das Publikum blickt also lediglich auf eine das Burgtheaterportal ausfüllende schwarze Tafel, auf der, mit weißer Kreide geschrieben, zum Schuljahr 2018/19 willkommen geheißen wird. Davor – und für eine im ganzen Theaterraum brauchbare Akustik leider etwas zu weit von der Rampe nach hinten gerückt – steht ein riesiger Sesselkreis, der im Verlauf des Abends analog zum wechselnden Stimmungsbild im Elternverein mal mehr, mal wieder weniger zerrüttet wird.

Regina Fritsch, Lilith Häßle, Markus Hering, Maximilian Pulst und Zeynep Buyraç (v. li.) in
Aus der Frühzeit der Zoom-Konferenzen: Regina Fritsch, Lilith Häßle, Markus Hering, Maximilian Pulst und Zeynep Buyraç (v. li.) in "Die Nebenwirkungen".
Matthias Horn

Spector siedelt seine eloquent geführten Grabenkämpfe im linksliberalen Gesellschaftsspektrum an und gibt ihm dabei eins auf die Rübe. An dieser Privatschule soll alles offen, demokratisch und achtsam vonstattengehen. "Die Community" steht über allem, jeder und jede soll gehört werden. Im übersteigerten Korrektseinwollen veräppelt der Autor den "alternativ" gesinnten Elternverein, er lässt sie alle betulich und besserwisserisch über ihr wokes Selbstverständnis reden. Die neue Kollegin Carina (Zeynep Buyraç), die es bei der ersten Versammlung unbekümmert aus einer Colaflasche zischen lässt, wird bald in die Tugenden der "Community" eingeführt. Wobei der viel strapazierte Community-Begriff schon allein durch den Schauplatz Privatschule einigermaßen fragwürdig erscheint.

Schleißig gekleidet

Die Inszenierung schenkt alle Aufmerksamkeit den Figuren: dem Althippie Don (Markus Hering), der sich vor jedem Konflikt wegduckt und allzeit zur Meditation rät; Suzanne (Regina Fritsch), die ein Kindstodtrauma zur Impfgegnerin werden ließ; der jungen May (Lilith Häßle), die angesichts multipler Krisen gar nicht mehr weiß, was sie denken soll, und dem Baseballtyp Eli (Maximilian Pulst), der am schleißigsten gekleidet ist (Kostüme: Justina Klimczyk), aber über Konzernverbindungen das meiste Geld hat.

Höhepunkt des zweistündigen Abends ist eine Zoom-Konferenz im dritten Akt. Die via Livestream geführte Debatte (Schulschließung? Impfpflicht?) wälzt alle Segnungen des digitalen Kommunizierens vergnüglich aus. Das "Jede Meinung zählt"-Selbstverständnis läuft aus dem Ruder. Der auf die große Leinwand projizierte Chatverlauf wird zum Abbild für das verrohte Sprechen. Es dauert nicht lange, bis vom "faschistischen Schulrat" zu lesen ist. Dazwischen ploppen Quacksalber-Posts auf ("Kurkuma statt Paracetamol!"). Das hat man davon, wenn man predigt: "Alle Ansichten sind gleich viel wert."

Regisseur Gloger, zuletzt für Die Dubarry an der Volksoper verantwortlich, beweist handwerkliches Geschick. So konventionell geht es an der Burg zwar selten zu, das Abbild einer komplexen Debatte samt ihren diversen Vertreterinnen und Vertretern ist aber gelungen. (Margarete Affenzeller, 2.10.2023)