Autor Daniel Wisser, 1971 in Klagenfurt geboren.
Autor Daniel Wisser, 1971 in Klagenfurt geboren.
Martin Rauchenwald

Wie würde sich ein Mensch verhalten, was würde er denken und fühlen, wie die Welt sehen und womit hadern, der 30 Jahre lang tot war und plötzlich wieder am Leben ist? Diese spannende Frage steht am Anfang von Daniel Wissers neuem Roman 0 1 2, sie stellt sich aber auch noch an dessen Ende. So wirklich zufrieden ist man mit ihrer Bearbeitung auf immerhin 440 Seiten nicht, die damit beginnen, dass sich der Anfang der 1990er unheilbar an Krebs erkrankte Computererfinder Erik Montelius damals hat einfrieren lassen und jetzt, anno 2021, wieder aufgetaut und operiert wurde.

Autor Wisser kann zwar durchaus Sensationelles vermelden: Sein Held Erik ist nicht nur der erste Mensch weltweit, bei dem dieses kryonische Konservierungsexperiment geglückt ist, sondern der Körper des auf dem Papier fast 70-Jährigen ist de facto noch knackige 39!

Dieser Umstand wird aber später im Buch sicherlich begünstigen, dass sich die Tochter Nikki seines einstigen Kollegen Winfried Haberler in einem Retourkutscheneinfall in Erik verliebt: Haberler hatte nämlich nach Eriks "Tod" mit dessen Frau Kris angebandelt, weswegen die beiden nun auch schon 29 Jahre miteinander verheiratet sind. Erik und Nikki begegnen sich bei Kris und Winfried zu Hause, wo Erik, nachdem er das Krankenhaus verlassen musste, weil seine Frau die Kosten für die frostige Verwahrung des Gatten nicht mehr stemmen mag, zur Überbrückung einzieht.

Ein gewisses Unbehagen ist spürbar: "Das Esszimmer der Haberlers war so einfallslos wie sie selbst."

Keine Wahrheiten

Man beginnt immer stärker zu ahnen, dass in 0 1 2 (der Titel bezieht sich drauf, dass Informatiker immer bei null zu zählen beginnen) nicht mehr die großen Fragen des Menschseins und Aufgetautwerdens aufploppen werden. Es fehlt dem ausladenden Roman aber – im Gegensatz zu den fabelhaften Erzählungen in Wissers letztem Buch Die erfundene Frau (2022) – auch an den kleinen, charmanten Wahrheiten.

Alte-Welt-Referenzen wie Musiknummern der Beatles, deren Texte mit Blick auf sein Leben plötzlich Sinn ergeben, und ein deutscher Kanzler Helmut Kohl treffen in Eriks Bewusstsein auf zeitgenössischere Phänomene wie SUVs, Laubbläser, Nordic-Walking-Stöcke und Corona-Maßnahmen. Sie werden mit eingedenk der Situation bewunderswerter Gelassenheit, jedoch leider auch wenig originell kommentiert. Erik findet nicht, dass die Welt in 30 Jahren angesichts immer noch herumfahrender Verbrennerautos, der Selbstentblößung vor Handys und dass ein heimischer Minister sich auf öffentlichen Druck hin seine langen Haare hat abschneiden lassen, große Fortschritte gemacht hat.

Für einen Kuriositätenroman ist 0 1 2 auf dieser Flamme geköchelt auf die Dauer zu wenig kurios. Ein Krimi? Könnte es werden, aber die Nachforschungen zu den Umständen seines Eingefrorenwerdens und ob jemand bestochen wurde, um ihn aus dem Weg zu räumen (Eriks Versuch, dem inzwischen 40-jährigen Sohn näherzukommen, mündet in der Feststellung, dass der Bub eher Haberler ähnlich schaut ...), geraten Erik jedes Mal aus dem Blick.

Brennende Autos

Denn während er seine besten Jahre nun mit Nikki nachholt und sich von ihr in die Gewänder japanischer Designer kleiden lässt, die wie ein "Reissack" aussehen, beginnen in der Nachbarschaft der Haberlers Autos zu brennen, will Soraya Unterasinger vom niederösterreichischen Fernsehen einen Beitrag über ihn drehen, und auch CNN klopft an.

Sogar dass der Vater einst ein Nazi war, wird da auf eine wabernde Erinnerung zusammengestaucht. 0 1 2 entwickelt sich Seite um Seite mehr zum Drehbuch, aus dem mittelkomplexe Familienkomödien für samstags auf ORF 2 gestrickt sind.

Flüssig erzählen kann Wisser, das muss man ihm lassen. Aber die Suppe ist eben dünn, und die Figuren bleiben flach. Die Geschichte ohne doppelten Boden und Widerhaken verliert sich zum vorläufigen Ende Eriks in einem Flüchtlingsauffanglager in viel Füllmaterial. Eriks eisige Erfahrung wird für die Leser zur langatmigen.

Wisser, der 2018 mit Königin der Berge über eine Multiple-Sklerose-Patientin den Österreichischen Buchpreis gewonnen hat, geizt diesmal leider mit Finesse. (Michael Wurmitzer, 3.10.2023)