In der Eigenwahrnehmung sind wir Wiener ja voll immunisiert gegen die Verlockungen bundesdeutscher Genusskompetenz. Woi ma ned, brauch ma ned, gibt’s ned. Und, weil wir schließlich einen Ruf zu verlieren haben: Schleichts eich! Das geht für manche Über-Austriaken so weit, dass sie selbst deutschen Wein nicht über ihre Lippen lassen – man müsste ihm am Ende ja Weltklasse bescheinigen. So weit kommt’s noch!

Nun ist es zwar so, dass etliche der höchstdekorierten Küchenchefs der Hauptstadt (Amador, Nickol, Günzel …) sich schon seit Jahren aus der germanischen Kohorte rekrutieren, dass auch herausragende Wiener Sommeliers (Antrag, Breitzke …) auf gut Deutsch Piefke sind. Ändert aber nix daran, dass der Wiener als Kollektiv sich weiterhin in der Illusion suhlt, immer noch an einem real existierenden Ort autochthoner gastronomischer Qualität zu leben.

Kann man kollektiven Narzissmus oder provinziellen Größenwahn nennen – es gibt aber Grund zur Hoffnung: Die Adepten der reinen Lehre des grenzlanddeutschen Minderwertigkeitskomplexes werden schön langsam richtig alt und, einer nach dem anderen, weniger. Und die Jungen? Die sagen längst lecker statt gschmackig und sind auch sonst viel entspannter.

Nur so lässt sich erklären, dass eine original aus Düsseldorf stammende Pizzeria seit ein paar Wochen auch in Wien ein Franchise laufen hat – und vom ersten Abend an zum Brechen voll ist. Pizza und richtig arge Auskenner-Weinkarte mit mehr als moderaten Aufschlägen – das ist das Konzept, das der einst bei deutschen Dreisternern engagierte Sommelier Sebastian Georgi sich vor ein paar Jahren ausgedacht hat – und das inzwischen an sechs Standorten in Deutschland für Schlangen auf den Geh-, Pardon, Bürgersteigen sorgt. Jetzt also auch in Wien.

Champagner ist ein ziemliches Thema auf der Karte, da lassen sich echt rare Flaschen finden, die bei Wissenden für große Augen sorgen: Kultwinzer Fréderic Savart von der Montagne de Reims zum Beispiel, den man auf heimischen Weinkarten sonst lange suchen muss, ist mit seinen Bulles de Rosé um 140 Euro eine echte Mezzie – natürlich nur, wenn man sowas schon lange einmal kosten können wollte. Aber auch für die schmale Brieftasche ist geiles Zeug da, jetzt, zur Eröffnung schon überhaupt: Chartogne Taillet um 70 Euro wäre so oder so ein Geschenk, derzeit gibt es obendrauf noch eine Dose richtig exquisiter, zart geräucherter Sardellen aus dem Baskenland dazu.

Die Pizzen sind mit 72 Stunden gereiftem Teig und zart knusprigem Boden sehr bekömmlich.
Die Pizzen sind mit 72 Stunden gereiftem Teig und zart knusprigem Boden sehr bekömmlich.
Foto: Gerhard Wasserbauer

In Wien ist Friederike Duhme für die Weinkarte und das Wegweisen durch ebendiese verantwortlich. Die Sommelière hat in Kenntnis lokaler Vorlieben auch richtig viel Österreich im Talon. Aber auch hier nur smarte Flaschen, zu mehr als guten Preisen. Christian Tschidas Über-Veltliner Non-Tradition um 90 Euro (kostet im Einkauf schon an die 60) etwa oder Franz Strohmeiers Karmin 12: Das sind Flaschen, für die man gerne um die Häuser zieht. Es lohnt sich aber mindestens so, sich von Frau Duhme durchs Dickicht der weiteren Welt führen zu lassen.

Alte Kuh, sehr bekömmlich

Die Pizzen machen auch auf Premium, sie sind mit 72 Stunden gereiftem Teig und zart knusprigem Boden sehr bekömmlich, und zwar trotz dick aufgetragenen Belags. Bresaola von der alten Kuh und richtig viel Burrata di bufala (laut Geschäftsführer Rainer Ziegler "garantiert" von einem ethisch korrekt arbeitenden Hof) zum Beispiel oder Chorizo vom Iberico-Schwein mit Chili-Honig, Pimenton und Fior di Latte auf einer Hellboy genannten Umami-Bombe. Den Pizzaiolo darf hier ein Franzose machen. Antoine Lacoue-Labarthe ist in echt eigentlich Koch – weshalb es, sobald der Wahnsinn der Eröffnung geschafft ist, auch echte Küche (aber nur am Chef’s Table beim Ofen) geben soll. Das kann ja was werden! (RONDO, Severin Corti, 6.10.2023)