Ja, es gibt sie, die bittere Armut in Österreich. 2,3 Prozent der Bevölkerung, also etwa 200.000 Menschen, führen in einem Land, das im weltweiten Vermögensranking die 27. Stelle belegt, ein Leben auf der Kippe zu akutem existenziellem Mangel, und manchmal auch darunter. Das hat die EU-weite Silc-Einkommenserhebung 2022 ergeben. Wohnen, Heizen, Essen – das Stillen dieser Grundbedürfnisse fällt ihnen mit dem Geld, das sie zur Verfügung haben, schwer. So sehr, dass vielfach eines dieser drei Bedürfnisse hintanstehen muss. Das ist dann oft das Essen, "weil man hier am einfachsten sparen kann", weiß Martin Schenk, der stellvertretende Leiter der Diakonie.

Warteschlange bei der Essensausgabe vor der Hilfseinrichtung Carla Nord der Caritas Wien
Wenn die Ausgaben für Lebensmittel zum Problem werden: Warteschlange vor der Essensausgabe der Hilfseinrichtung Carla Nord der Caritas.
Regine Hendrick

Kein Geld mehr für Essen

Mit warmen Mahlzeiten beim Burger-Brater hat das aber nichts zu tun. Mehrmals in den vergangenen Monaten sei er Menschen gegenübergesessen, die um den 20. des Monats absolut kein Geld für weitere Lebensmittelkäufe mehr hatten, schildert der Sozialexperte. Meist habe es sich um alleinerziehende Frauen gehandelt: "Das, was an Essen noch da war, hatten sie für ihre Kinder reserviert. Sie selber aßen bis zum nächsten Ersten wenig bis nichts. Ich hab ihnen dringend zu einem Lebensmittelpaket geraten."

Derlei akute Not sei in Österreich kein Massenphänomen, betont Schenk. Sozialleistungen und Direktzahlungen hätten das ärmste Fünftel der Bevölkerung in den vergangenen Jahren der Multikrisen vor einem Absturz in Armut bewahrt. Dort jedoch, wo es schon davor "Lücken im System" gegeben habe, greife das nicht: "Zu glauben, dass Direktzahlungen die Teuerung auch für Mindestsicherungsbezieher auffangen können, die statt bedarfsgerechter Zahlungen seit 2012 nur noch Höchstbeträge erhalten, ist ein Denkfehler."

Wie aber gerät man in akute Armut? Wer ist besonders betroffen? Was sind die Lebensumstände, die Menschen in Österreich auch in Zeiten relativ niedriger Arbeitslosigkeit in eine solche Lage bringen? Schenk und Doris Anzengruber, Leiterin der Sozialberatung der Wiener Caritas, nennen eine Reihe von Faktoren:

Doris Anzengruber, Leiterin der Sozialberatung der Caritas.
Hohe Energiekostennachzahlungen bringen arme Menschen ins Out, sagt Doris Anzengruber, Chefin der Wiener Caritas-Sozialberatung.
Stefanie J. Steindl

(Irene Brickner, 8.10.2023)