Tanz
Eine alte Liebesgeschichte – in Linz intensiv aktualisiert.
KeiBrunnaderne

Der Stoff ist brandaktuell. Heute entspräche Shakespeares Romeo und Julia-Thema der Liebesgeschichte zwischen einer Israelin und einem Palästinenser oder einer Russin und einer Ukrainerin. Jetzt spannt die britische Choreografin Caroline Finn im Linzer Musiktheater noch ein weiteres Spannungsfeld auf. Ihre Interpretation versetzt die bekannten Ereignisse in eine Durchmischung zweier konkurrierender Gruppen aus verwöhnten Westlern.

In der Uraufführung dieses Stücks mit der Landestheater-Kompanie Tanz Linz wird schnell klar, dass hier weder eine "klassische" Fassung umgesetzt wird noch eine makabre Groteske wie Romeo und Julia von Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir vor fünf Jahren in München. Die beiden Isländerinnen gehören mit der Südafrikanerin Dada Masilo (2008) und jetzt Finn zu den bisher wenigen Frauen, die das 1940 entstandene Prokofjew-Ballett choreografiert haben.

Clans aus Verona

Caroline Finn nimmt Shakespeares Prolog zum politischen Kontext des Dramas ernst: "Wie altem Hader neuer Hass entspringt / Mit Bürgerblut sich Bürgerhand befleckt." Die Montagues und die Capulets sind beide Clans aus Verona, und ihr Zwist entspricht einem Bürgerkrieg. Finn greift in die offene Wunde des rasanten Auseinanderfallens liberaler Gesellschaften, die ihren Frieden nicht mehr ertragen und sich über allerlei Ideologie-Plunder streiten.

Die Choreografin skizziert eine Entzweiung ohne klare Frontlinie – nur für einen kurzen Moment sortieren sich die beiden Gruppen auseinander. Durch das emsige Getriebe auf der Bühne stolzieren immer wieder "Rasenmäher-Eltern", also solche, die ihren Kindern alle Hindernisse aus dem Weg räumen und sie so in die Unselbstständigkeit treiben. Das lässt sich als Anspielung auf die Infantilisierung der liberalen Gesellschaften durch die Dienstleistungsindustrie lesen.

Die Manipulation

Noch dazu streift als ständiger Begleiter der kleinen, stets etwas benommen wirkenden Population unter mächtigen Hochspannungsmasten die von Caroline Finn implementierte Figur eines "Imkers" umher. Sie ist wohl als Allegorie einer übergeordneten Macht zu verstehen, die Völker manipuliert und ökonomisch verwertet.

Tybalt tritt hier als Frau auf, die nichts für Mercutios Tod kann, denn der überdrehte Montague stirbt an einem Stromschlag. Trotzdem wird Tybalt, den Angelica Mattiazzi herrlich tanzt, vom überforderten Romeo (Lorenzo Ruta) erwürgt. Und die großartige Tänzerin Fleur Wijsman schaltet ihre Julia am Ende im Starkstrom eines Transformators aus. Diese Aktualisierung ist gelungen. (Helmut Ploebst, 8.10.2023)