In vielen Familien gab es ein ähnliches Phänomen: Man wollte den Großeltern ins digitale Zeitalter helfen, kaufte ihnen Laptop oder iPad und brachte ihnen bei, wie man die Enkerln sehen und mit ihnen plaudern kann. Wenige Monate später war das Experiment beendet; den Kontakt pflegte man wieder mit Telefonanrufen oder Besuchen. Der Laptop diente nur noch zum Beschweren von Zetteln und Briefen.

Umfrageinstitute und Berater sind die Laptops der Politik. Richtig angewendet können sie nützlich sein, um Stimmungen auszuloten und große Reformen zu ermöglichen. De facto sind sie Briefbeschwerer: zu einflussreich und teuer für das, was sie leisten. Die eher schlichte Präsentation von Sora ist ein anschauliches Beispiel dafür.

Burger, Bargeld und "normale" Menschen

Berater testen mittels Umfragen Themen, die Parteien "positionieren" sollen. So "entstehen" Diskussionen über Burger, Bargeld und "normale" Menschen, eine Beliebigkeit, die zum Marxismus führt, und zwar Groucho, nicht Karl: "Das sind unsere Prinzipien, und wenn sie euch nicht gefallen, dann haben wir andere." Und sei es das pseudoreligiöse Prinzip "An Österreich glauben", das zuletzt nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs nötig war.

Die politische Debatte im analogen Zeitalter erforderte eine gewisse logische Struktur. In sozialen Medien gibt es dagegen kaum noch Diskussionen, sondern Bewertungen: Daumen rauf, Daumen runter. Stimmungen sind aber wesentlich vielschichtiger, oft latent und schwer messbar. Als Beispiel: Seit Jahren sagen Mehrheiten, dass es zu viel Migration gibt; die Meinung ist jedoch nuancierter, wo detaillierter gefragt wird – wenn Menschen zum Beispiel zwischen geschlossenen Krankenhäusern oder mehr ausländischem Personal wählen müssen.

Achten auf Richtung

Beides kann richtig sein. Menschen sind auch nicht verpflichtet, kohärente politische Ansichten zu vertreten. Die Briefbeschwerer suggerieren aber Kohärenz: dass eine Partei dann mehr Stimmen erhält, wenn mehr Wählerinnen im eigenen "Marktsegment" mit einer größeren Anzahl von deren Standpunkten einverstanden sind. Nach dieser Logik spulen Parteisekretariate seit Jahren ihr Programm ab – es funktioniert aber nicht. Wähler addieren nicht Positionen in einzelnen Fragen wie Neutralität, Hasch-Legalisierung oder der Steuerlast auf und entscheiden danach zwischen Parteien. Sie achten auf Richtung, ja, aber mehr noch auf Persönlichkeiten und Kompetenz.

Deswegen sind sie so enttäuscht. Die derzeit 30 Prozent potenzielle FPÖ-Wähler sind nicht über Nacht rechtsextrem geworden. Sie beobachten, dass die ÖVP nach 37 Jahren in der Regierung intellektuell und personell ausgelaugt ist. Dass die SPÖ einen überforderten Kleinstadt-Bürgermeister an die Spitze hievte. Dass Parteien intern Personal befördern, das loyal ist, aber wenig führungsstark, und das, meist nur in der Politik sozialisiert, woanders in keine vergleichbare Führungsposition oder Gehaltshöhe aufsteigen würde. Dass Probleme wie der Zustand der Schulen, das marode Pensionssystem, das Rückführen straffälliger Asylwerber oder der Pseudo-Föderalismus vor sich hin schwelen, ohne je entschlossen angegangen zu werden. Das führt zu einer Haltung, dass da "endlich jemand aufräumen soll", damit wenigstens etwas geschieht.

Meinungsinstitut Sora
Umfrageinstitute und Berater sind de facto wie Briefbeschwerer: zu einflussreich und teuer für das, was sie leisten. Die eher schlichte Präsentation von Sora ist ein anschauliches Beispiel dafür.
APA/ROLAND SCHLAGER

Überschaubares Angebot

Parteien gibt es in repräsentativen Demokratien deswegen, weil sie mit ihrem Personal und ihren Parteiprogrammen für die Wähler ein überschaubares Angebot schaffen. Wahlen wären sonst kaum mehr als ein Glücksspiel der Unübersichtlichkeit. Wenn aber die Marx-Brüder das Personal und ihre Programme zu flatternden Zetteln im Wind der Meinungsumfragen machen, verlieren Parteien ihre Existenzberechtigung. (Veit Dengler, 9.10.2023)