Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmanns Vater Michael Kehlmann (1927–2005) war selbst Regisseur. Vielleicht hat das den Sohn am Thema seines neuen Buches gereizt.
HEIKE STEINWEG www.heikesteinw

"Versuchen Sie auch, in die USA zu kommen?" – "Da waren wir schon." So knapp kann ein abgrundtief tragischer Dialog sein. Er ereignet sich in Daniel Kehlmanns neuem Roman Lichtspiel nach hundert Seiten spätnachts in einem mit vor den Nazis geflüchteten Künstlern bevölkerten Lokal in Paris. Der berühmte Filmregisseur G. W. Pabst ist mit seiner Frau Trude und dem Sohn Jakob aus den USA nach Europa zurückgekehrt und löst damit von Carl Zuckmayer bis George Grosz basses Unverständnis aus.

Mit Hitlers Machtergreifung nach Amerika ausgewandert, hat "Will" dort aber mit seinem schlechten Englisch, oft verwechselt mit dem Metropolis-Schöpfer Fritz Lang und nach dem Filmflop A Modern Hero keinen Fuß auf den Boden gekriegt: Was er drehen will, wollen amerikanische Studios nicht finanzieren. Selbst Greta Garbo, die er einst entdeckt und zum Star gemacht hat, mag ihm nicht helfen. Da bietet ihm auf einer Party in Hollywood ein dem neuen Regime verbundener Gast an, zurück in der Heimat könnte er herrliche Filme machen, die Regierung würde sich gewiss pragmatisch zeigen. Pabst lehnt ab.

Eigentlich wollte er danach nur nach Frankreich zurück, wo er seine letzten Erfolge gefeiert hat. Inzwischen hat Pabst aber Nachricht seiner Mutter aus der Steiermark erreicht, die ihn sehen will. Während fast die gesamte deutsche und österreichische Kulturelite auseinanderstiebt, passiert die Familie 1939 die Grenze in die "Ostmark". Bis sie wieder draußen seien, dürfe er nicht mehr "Österreich" sagen, schärft Pabst dem Sohn ein. Wieder hinaus will er ziemlich bald.

Historischer Stoff

Mit historischen Stoffen hat Daniel Kehlmann (48) gute Erfahrungen gemacht. Seine Vermessung der Welt über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß wurde 2005 ein Millionenseller, in Tyll hat er vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges erzählt, im Theaterstück Die Reise der Verlorenen die Odyssee eines Schiffs mit jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland 1939 behandelt.

In Lichtspiel beruft er sich wieder auf Fakten. Sein Antiheld orientiert sich an dem 1885 in Böhmen geborenen Regisseur, der mit seinen Filmen Die freudlose Gasse (1925) oder Die Büchse der Pandora (1929) berühmt geworden war. Im Inhalt sozialkritisch, antikriegerisch, links und stilistisch mit der bewegten Kamera und dem ernsten, mimisch heruntergedimmten Spiel als einer der Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit gefeiert, hatte Pabst bei Machtergreifung der Nazis in Frankreich gedreht und beschlossen, in die USA zu gehen.

Vor diesem Hintergrund erfindet Kehlmann manches dazu, wandelt anderes ab – und baut daraus die Geschichte eines Unglücklichen, der von den äußeren Umständen gedrängt immer tiefer in seine missliche Lage rutscht, dabei vom Opfer über den Opportunisten zum Täter alle Stationen durchläuft und als gebrochener Mann zurückbleibt.

Mitmachen

Bei diesem Niedergang ist man als Leser nun schlaglichthaft dabei. Im steirischen Tillmitsch, wo Pabst billig ein feuchtes Schloss gekauft hat und seine Mutter wohnt, ist der Hausmeister mit seiner Frau und den Töchtern inzwischen ein überzeugter Nazi. Schnell wieder abzureisen ist aufgrund der nach dem Einmarsch in Polen geschlossenen Grenzen unmöglich. Jakob wird eingeschult, und während der Bub schnell lernt, wie man sich zu verhalten hat, um kein Außenseiter oder verdächtig zu sein, macht der Vater ähnliche Erfahrungen mit dem Propagandaminister. Als er jenem im viel zu großen Büro gegenübersitzt, ist das eine Szene, so absurd und komisch, als hätte Kehlmann sie dem Schauspieler Christoph Waltz (und dessen SS-Standartenführer Landa 2009 in Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds) auf den Leib geschrieben: "Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann, zum Beispiel KZ. Jederzeit."

Lichtspiel zeigt sich als erstaunlich aufgeweckt und gewitzt angesichts seines schweren Themas. Pabst erinnert sich an seinen Film Die weiße Hölle vom Piz Palü, den er am Gletscher mit Leni Riefenstahl als mieser Schauspielerin gedreht hat, die die ganze Zeit seine Brennweiten studierte. Kehlmann erzählt pointiert von einem Nazi-Gattinnen-Buchklub, der keinen Widerspruch duldet. So ziehen die Seiten sehr "well made" dahin, halten die Spannung hoch, erinnern aber bald mehr an Blockbuster- als Arthouse-Kino.

Gekonnt, aber konventionell

Alles ist ein bisschen zu glatt, bunt, handlungsgetrieben. Man fühlt keine der Figuren, denen man zuschaut. Eine Reflexionsebene fehlt und etwas, das die typischen Storybestandteile so einer Nazigeschichte gegen den Strich bürsten würde. Lichtspiel ist wie eine sehr teure Produktion mit vielen Schauplätzen, großen Namen am Besetzungszettel, unzähligen Statisten. Man kann das reizvoll-opulent oder verschwenderisch finden. Denn Schnitt, Kamera, Ton bleiben, abgesehen vom Witz, obwohl gekonnt, konventionell.

Pabst wird während des Naziregimes Komödianten und Paracelsus drehen, die beide sein Werk nicht diskreditieren, trotzdem wird er nach dem Krieg nicht mehr zur alten Größe finden. Beim dritten, nie veröffentlichten Streifen der NS-Jahre, schert Kehlmanns erzählerische Freiheit allerdings aus: Sein Regisseur holt sich für Der Fall Molander Statisten aus einem Lager. Das führt zu einer Rahmenhandlung, die 30 Jahre später, aber noch fast zehn Jahre vor der Affäre um Kurt Waldheim, in der Fernsehshow von Heinz Conrads in puncto Vergangenheitsverklärung entlarvende Szenen aufwirft. Da sind sie, die profunden Zwischentöne, an denen es sonst mangelt. (Michael Wurmitzer, 10.10.2023)