Palästina Stephansplatz
Am Stephansplatz schwenkten Demonstranten die Flagge Palästinas.
APA/TOBIAS STEINMAURER

Wien – Der Ton war schon im Vorfeld gesetzt worden: Auf der Einladung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien für die Gedenkveranstaltung am Mittwochabend war eine Kerze zu sehen – symbolisch für die Trauer und das Gedenken an die Opfer des Krieges der palästinensischen Hamas gegen Israel. Auf dem Plakat, das für die parallel stattfindende Palästina-Mahnwache warb, war hingegen eine Explosion zu sehen, offenbar im Gazastreifen. Darunter stand: "Free Palestine From the River to the Sea".

Video: Österreich gedachte in Wien der Opfer des Hamas-Terrors
DER STANDARD

Die Parole impliziert die Auslöschung Israels und die Errichtung eines palästinensischen Staates – eben vom Jordan bis zum Mittelmeer. Für die Landespolizeidirektion Wien war es deshalb "zulässig und geboten, in das Versammlungsrecht einzugreifen", also die Demo vor dem Stephansdom zu verbieten, wie sie am Nachmittag in einer eilig einberufenen Presserunde bekanntgab. Man folgte damit dem Beispiel anderer Länder: In Berlin wurden ebenfalls Demos verboten, in Großbritannien hat Innenministerin Suella Braverman am Dienstag vorgeschlagen, die Verwendung des Slogans zu kriminalisieren.

Untersagt wegen "Gesamtlage"

Die Entscheidung der Wiener Polizei fiel aber auch wegen der "Gesamtlage" – gemeint war damit wohl die wenige hunderte Meter entfernt stattfindende Gedenkveranstaltung auf dem Ballhausplatz. Dieser ist zunächst noch vollständig von der Polizei abgeriegelt, erst gegen 18 Uhr dürfen die Teilnehmenden vor das Kanzleramt. Viele tragen Kippa, zeigen Transparente, auf denen sie auf Vermisste aufmerksam machen, oder schwenken Israel-Flaggen.

Links ein Plakat für die
Die beiden Plakate, mit denen zu den Demonstrationen am Mittwoch aufgerufen wurde.
links: Palästina Solidarität Österreich, rechts: Israelitische Kultusgemeinde Wien

Eine solche haben auch drei junge Männer dabei. Einer erklärt: "Wir wollen unsere Solidarität mit Israel zeigen. Wir sind wirklich erschüttert vom Terror der Hamas." Von diesem sind sie sogar indirekt betroffen: Eigentlich wollte die Gruppe nach Israel reisen, die Pläne liegen nun auf Eis.

"Nie wieder"

Zum Auftakt des Gedenkens wird auf Hebräisch gesungen und gebetet. Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, ist der erste Redner – was ihm sichtlich schwerfällt. Zwar mit lauter, aber doch immer wieder stockender Stimme zählt er beispielhaft einige der palästinensischen Gräueltaten auf. Man habe sich aber bewusst entschieden, diese nicht im Bild zu zeigen. "Wir alle kennen diese Bilder und werden sie nie vergessen. Wir dürfen sie nicht vergessen." Deutsch fordert: "'Nie wieder' bedeutet seit dem Wochenende auch, dass so ein Massaker nie wieder geschehen darf."

IKG Oskar Deutsch
IKG-Präsident Oskar Deutsch anlässlich der Gedenkveranstaltung der Israelitischen Kultusgemeinde am Wiener Ballhausplatz
APA/EVA MANHART

Neben vielen Solidaritätsbekundungen und außenpolitischen Botschaften gibt es auf der Gedenkveranstaltung auch innenpolitische Beiträge. Ein Vertreter der Jüdischen Hochschülerschaft sagt: "Ich frage den Bundeskanzler: Wie kann es sein, dass man sich im Jahr 2023 nicht offen jüdisch zeigen kann?" Eine Anspielung auf den Hinweis der Veranstalter, man solle vor und nach der Demo Flaggen und Transparente versteckt mit sich führen. "Keine Partei, die es mit dem Schutz der Juden ernst meint, kann mit der FPÖ koalieren", betont der Hochschulvertreter außerdem. Für seine Rede erhält er lauten Applaus.

Kanzler "betroffen"

Der Bundeskanzler selbst reagiert in seiner Rede umgehend: "Es macht mich betroffen, dass die jüdische Jugend sich nicht sicher fühlt", sagt Karl Nehammer (ÖVP). Er setze sich für die Sicherheit der Menschen ein. Nehammer wirkt kämpferisch, spricht laut und eindringlich. Auch er wird mit Applaus bedacht. Der Kanzler schlägt aber auch ruhigere Töne an: "Österreich steht zu seiner historischen Verantwortung. Das Lernen aus der Geschichte war ein schmerzhafter Prozess, aber er war vor allem für die Opfer schmerzhaft."

Fast die komplette österreichischen Staatsspitze ist auf dem Ballhausplatz: Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) nennt den Krieg der Hamas einen "Zivilisationsbruch" – ein Begriff, der üblicherweise in Zusammenhang mit der Shoa verwendet wird. Bundespräsident Alexander Van der Bellen, wäre ebenfalls gerne gekommen, fällt aber krankheitsbedingt aus. Seine Botschaft trägt die Schauspielerin Mercedes Echerer vor: "Wir stehen Seite an Seite mit Israel. Viele Österreicherinnen und Österreicher trauern mit ihren Freunden und Verwandten in Israel. Auch ich trauere mit ihnen."

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gedenkveranstaltung.
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gedenkveranstaltung.
APA/EVA MANHART

Zwischen den Redebeiträgen – auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), Neos-Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger und Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) sind dabei – ertönen immer wieder "Israel"-Rufe, einzelne Teilnehmende stimmen Lieder an. Kurz gibt es ein Rumoren, weil manche der Gedenkenden eine Palästina-Flagge in der Menge ausgemacht haben wollen. Die Menschen fühlen sich deshalb unwohl in dem Schutzraum, der der Ballhausplatz an diesem Abend für sie ist. Der Mann mit der Flagge klärt dann aber auf: "Das ist die Flagge des Iran vor der islamischen Revolution. Wir stehen an eurer Seite."

Am Ende der Veranstaltung singen die Menschen auf dem Ballhausplatz die israelische Nationalhymne, dazu erleuchten ihre Smartphone-Taschenlampen. Danach werden die meisten Israel-Flaggen tatsächlich schnell eingepackt, die Moderatorin der Gedenkveranstaltung bittet außerdem, den Stephansplatz zu meiden.

Demo trotz Verbots

Dort haben sich nämlich trotz Verbots ein paar hundert Demonstrantinnen und Demonstranten versammelt. Die Stimmung ist aufgeheizt, sie schwenken Palästina-Flaggen und skandieren "Allahu akbar" und "Free, free Palestine, from the river to the sea". Also ebenjene Parole, die zum Verbot geführt hat. In Gang kommt die Demonstration allerdings nicht. Mal bewegt sie sich ein paar Meter nach links, mal ein paar Meter nach rechts. Die Polizei hat mittlerweile einen Kessel gebildet. Darüber hinaus passiert allerdings nichts: "Das Auflösen einer Versammlung geht aus einsatztaktischen Gründen nicht immer mit einer direkten physischen Auflösung einher", schreibt die Polizei bei X (vormals Twitter).

Gedenkveranstaltung gegen die Hamas Terroratacken in Israel, Gegendemo Palästinenser
Am Stephansplatz
© Christian Fischer

Wie der STANDARD auf Nachfrage erfährt, wird zwischenzeitlich allerdings durchaus die Auflösung mit Zwang erwogen. Dazu kommt es möglicherweise auch deshalb nicht mehr, weil die propalästinensische Kundgebung gegen 20.45 Uhr endet. Die Polizei hält ihre Reihen zwar, doch die meisten Demonstrantinnen und Demonstranten entkommen über die Terrasse eines Restaurants.

Die Polizei wirkt überfordert. Zunächst reagiert sie gar nicht, dann riegelt sie den Platz komplett ab, auch Passantinnen und Passanten sowie Journalistinnen und Journalisten dürfen nicht nach draußen. Demonstrantinnen und Demonstranten sind hingegen nur noch vereinzelt vor dem Dom. Sie kesselt die Polizei weiter ein, um den Teilnehmenden der Gedenkveranstaltung auf dem Ballhausplatz einen sicheren Heimweg zu garantieren. Ob das vollumfänglich gelingt, scheint in diesem Moment offen. (Sebastian Scheffel, 11.10.2023)