Thierry Breton ist zweifelsohne ein streitbarer Mann: Am Mittwoch legte er sich öffentlich mit Elon Musk an, kurz darauf mit Mark Zuckerberg und dessen Meta-Plattformen. Am Donnerstag zog sich schließlich Tiktok den Groll des EU-Digitalkommissars zu. Der Grund: Nach Ansicht Bretons gehen die Plattformen im Nahostkonflikt nicht ausreichend gegen Terroraufrufe und Antisemitismus vor.

Breton wittert einen klaren Verstoß gegen den Digital Services Act und leitet öffentlichkeitswirksam Verfahren ein, indem er sich etwa auf eine etwas infantil anmutende verbale Auseinandersetzung mit Elon Musk einließ. Und ja, die Briefe an Musk, Zuckerberg und Tiktok-Chef Shou Xi Chew werden von Breton tatsächlich als Eröffnung des Verfahrens aufgefasst, wie der Kommissar bei einem Treffen mit Journalisten in Brüssel, darunter dem STANDARD, bestätigte. Auch um die Nulltoleranz der EU gegenüber Hassrede und Terroraufrufen zu signalisieren.

In all dem von Breton aufgewirbelten Staub, ging eine Ankündigung unter, die bei den europäischen Telekommunikationsunternehmen noch für lange Gesichter sorgen dürfte und für Nutzerinnen und Nutzer gleichzeitig eine gute Nachricht darstellt: Die Fair Share genannte Datenmaut verschwand still und heimlich aus den Plänen des Kommissars. Kein Wunder, dass die Nachricht beinahe unterging: Für die Präsentation des Digital Networks Act wählte Breton ausnahmsweise nicht X, vormals Twitter, Facebook, Instagram oder Tikok, sondern legte seine Pläne für die künftigen europäischen Netze in einem langen Posting auf Linkedin dar.

Worum geht es? Breton hatte die Idee, die Großen der Tech-Branche sollten sich an den Kosten für den Ausbau der digitalen Netze beteiligen. Die Argumentation: Netflix, Google und Co würden die Netze mit riesigen Datenmengen blockieren, also sollen sie ihren Anteil an deren Ausbau leisten. Fair Share. Die meisten Telekommunikationsunternehmen waren von dem Vorschlag begeistert, schließlich würde Big Tech zumindest zum Teil den Netzausbau finanzieren. Die Userinnen und User waren weniger begeistert, schließlich war es nur zu wahrscheinlich, dass Google, Amazon, Netflix und Co die Mehrkosten in Form von höheren Abogebühren an ihre Kundschaft weitergeben würden. Die Netzneutralität sei mit dem Vorschlag dahin, argumentieren die Kritiker.

Letzter Baustein DNA

Nun kündigte Breton den letzten Baustein in dem an, was er einen digitalen Markt nennt. Datenschutzgrundverordnung, AI Act, Digital Markets Act, Digital Services Act und Data Act sollen durch einen finalen Akt, den Digital Networks Act, ergänzt werden. Mit dem DNA sollen die Netze der Europäischen Union für die Zukunft fit gemacht werden. Funkfrequenzen sollen künftig europaweit vergeben werden, Telekommunikationsunternehmen europaweit zusammenarbeiten. Am Ende soll ein paneuropäisches Netzwerk stehen, eine Art digitales Supernetz. Denn: Bislang sei der Markt zu fragmentiert, nationale Alleingänge nicht mit der Union abgestimmt, kurz: Kein Umfeld für den größten digitalen Markt der Welt, wie Breton es nennt.

Das Ziel dahinter: Größere Akteure sollen mehr Marktmacht gegenüber den großen Tech-Konzernen haben. Außerdem sei die aktuelle Situation am Markt in Europa schwierig, wie Breton aus den Konsultationen zu den Vorhaben lesen will: In der Telekommunikationsbranche gebe es nur geringe Renditen auf Investments, lange Laufzeiten, unsichere Märkte. Kurz: Der bürokratische Aufwand soll abgebaut werden und die Technologie möglichst schnell unter den Boden gelegt oder in die Luft gefunkt werden, aber noch ist der europaweite Netzausbau nicht besonders attraktiv. Das Ziel sei es daher, dass Investoren künftig in attraktive Netze investieren und nicht mehr in alte Kupferdrähte.

Und hier geistert Fair Share doch noch einmal durch den Vorschlag, aber mit einer Absage: "Manche haben versucht, das Thema auf den Kampf um Fair Share zwischen großen Telcos und Big Tech zu reduzieren", so Breton. Aber: Es sei zwar wichtig, ein Finanzierungsmodell für jene zu finden, die die Netze anbieten, aber es stehe viel mehr auf dem Spiel.

Sah es lange Zeit so aus, als würde Europa versuchen, die Ökonomie des Internets verändern zu wollen, steigt die Kommission nun also auf die Bremse.

Anleger wollten Geschenke

"Die Anleger wollten Geschenke unter dem Weihnachtsbaum, stattdessen haben sie eine Weihnachtskarte bekommen", beklagte John Strand, ein prominenter Telekom-Lobbyist und selbsterklärter Fair-Share-Fan. "Aus der Sicht der Aktionäre sagt die Europäische Kommission, dass die Aktionäre bis zur nächsten Kommission keine guten Nachrichten für die europäischen Telekommunikationsunternehmen erwarten sollten. Das bedeutet, dass sie Telekommunikationsaktien jetzt verkaufen, das Geld woanders anlegen und sie 2025 wieder kaufen sollten, wenn die Europäische Kommission gute Nachrichten verkündet."

Fair Share ist tot – vorerst

Mit "gute Nachrichten" meint Strand, dass Fair Share als untote Idee wieder durch Europa geistern könnte, nämlich dann, wenn die aktuelle Legislaturperiode in Brüssel und Straßburg endet und eine neue Kommission im Ende des Jahres 2024 ans Werk geht – und die umstrittene Idee bis 2025 möglicherweise wieder aufgreift. Wie es um die Zukunft der weiteren Pläne Bretons und des Digital Networks Act steht, ist aber ungewiss.

Warum Breton plötzlich einen Rückzieher machte, dürfte relativ rasch mit der fehlenden Unterstützung aus den Ländern für seine Datenmaut erklärt sein. Zuletzt hatte Italien sich vehement gegen die Pläne ausgesprochen und sie unter anderem als "unausgegoren" bezeichnet. Auch Österreich war vehement gegen die Abgabe. Fürs Erste ist die "Internetsteuer" also vom Tisch. Bis 2025. (Peter Zellinger aus Brüssel, 13.10.2023)