Zwanzig Tote. Und das sind "nur" diejenigen Familienangehörigen, von denen Mansor Abu El Hosna bis jetzt weiß, dass sie bei einem israelischen Luftangriff auf seine Geburtsstadt Jabalia im Norden des Gazastreifens ums Leben gekommen sind. Zwei Onkel liegen schwer verletzt in Spitälern. Zu den anderen Mitgliedern der Großfamilie, die dort alle im nahen Umfeld wohnen (oder gewohnt haben), hat der 27-jährige Palästinenser, der 2013 mit seiner Mutter und seinen acht Geschwistern als Flüchtling nach Österreich kam (der Vater war schon vorher geflohen), bis jetzt keinen Kontakt.

Mansor Abu El Hosna im Libanon
Trauer um Verwandte im Gaza-Streifen
Mansor Abu El Hosna bei einem Besuch im Libanon.
privat

Sein Bruder Osama war übrigens jener damals 23-jährige Mann, der beim Terroranschlag in Wien am 2. November 2020 einem Polizisten, der vom Attentäter angeschossen worden war, das Leben rettete. Ein Jahr zuvor hatte Familie Abu El Hosna für Aufsehen gesorgt, weil ihr eine niederösterreichische Gemeinde mit Verweis auf die "unterschiedlichen Kulturkreise der islamischen sowie der westlichen Welt" untersagen wollte, dort ein Haus zu kaufen.

Nun also trauert die Familie um jetzt einmal 15 Tote väterlicherseits und fünf aus der Linie der Mutter, darunter viele Kinder – und bangt um viele weitere, wie Abu El Hosna am Samstagvormittag im STANDARD-Gespräch erzählt.

Die SPÖ-Nationalratsabgeordnete Muna Duzdar, selbst Tochter palästinensischer Einwanderer aus dem Westjordanland und Jerusalem sowie Freundin und Rechtsanwältin der Familie Abu El Hosna, gedachte der toten Verwandten der palästinensischen Familie auf Instagram. Darauf zu sehen sind drei Cousinen von Mansor: Riem, Asil und Tasnim.

Riem, Asil und Tasnim
Drei Cousinen von Mansor Abu El Hosna, die in Jabalia im Gaza-Streifen bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sind.  

Das Haus seiner Großeltern sei "dem Erdboden gleichgemacht" worden, berichtet der junge Palästinenser: "Ich erreiche seit vier Tagen weder meinen Opa noch meine Oma oder irgendwen von meinen Onkeln und Tanten oder Cousins und Cousinen. Internet und Telefon funktionieren nicht. Wir wissen nicht, wer noch aller tot ist." 40 Personen hätten bei einem Onkel, der weiter entfernt wohnt, Unterschlupf gefunden. Aber auch dort gebe es bereits Schwierigkeiten, sie alle mit Essen zu versorgen.

Todesnachricht via Facebook

Am Freitag in der Früh hat er fast zufällig über die Facebook-Seite von Bekannten in Gaza erfahren, dass zwanzig Menschen aus seiner Familie im Zuge der Bombardierungen durch die israelische Armee getötet worden waren. Vermutlich schon vor mehreren Tagen. Israels Verteidigungskräfte (IDF) hatten am Montag selbst mitgeteilt, dass sie neben anderen Zielen auch eine operative Einrichtung der radikalislamischen Terrororganisation Hamas ins Visier genommen habe, die in einer Moschee in der Stadt Jabalia vermutet worden war. Das Gesundheitsministerium in Gaza wiederum berichtete am selben Tag über Dutzende Tote und Verletzte nach Luftangriffen auf das Flüchtlingslager Jabalia.

Noch hofft Familie Abu El Hosna in Österreich. Aber, so schildert der Sohn Mansor: "Jabalia ist wie ganz Gaza extrem dicht besiedelt. Jeder kennt jeden. Und wenn ein Haus beschossen wird, dann sind auch die anderen kaputt, weil es so eng verbaut ist." Laut seinen Informationen seien 70 Prozent des Stadtgebiets bereits zerstört. Schon vor dem Krieg habe es nur sechs Stunden am Tag Strom gegeben, man habe sich mit Solaranlagen beholfen, um zum Beispiel Handys aufzuladen. "Die Situation in Gaza war vor dem Krieg eine Katastrophe und sie ist es jetzt noch viel mehr", sagt Abu El Hosna, der eine Ausbildung als Finanzbuchhalter und Lohnverrechner gemacht hat und in diesem Beruf auch arbeitet. "Es war immer schwer, genug Essen aufzutreiben oder Arbeit zu finden. Die Leute dort arbeiten für drei bis vier Euro zwölf Stunden am Tag. Sie wollten doch nur leben und arbeiten wie wir alle. Und jetzt diese humanitäre Katastrophe. Dabei haben die zwei Millionen Menschen im Gazastreifen nichts mit diesem Krieg zu tun. Alle Leute in Gaza sind traurig und schockiert über das, was jetzt passiert.

Leben in Frieden auf beiden Seiten

Was sagt der Palästinenser, der seit zehn Jahren in Österreich lebt, zu der Pro-Palästina-Demonstration am Samstagnachmittag in Wien-Favoriten? "Ich werde nicht zur Demonstration gehen. Ich trauere um meine Verwandten. Was soll ich dort, während unsere Familien in Gaza sterben? Israel soll sich an den Hamas-Kämpfern rächen – aber sie sollen die Menschen, die nichts damit zu tun haben, in Frieden leben lassen. Das gilt für beide und die Menschen auf beiden Seiten! Ich bin kein Politiker, ich bin nur ein Mensch wie wir alle. Wir alle sind Menschen, wir haben alle dasselbe Blut. Was hat eine Schule mit dem Krieg zu tun? Was hat ein Spital mit dem Krieg zu tun? Was haben die Kinder in Gaza oder die alten Menschen dort damit zu tun?", fragt er und meint: "Sie sollen diese Leute leben lassen." Und Mansor Abu El Hosna betont immer, dass das "für beide Seiten" gelte.

Das Leben in Gaza, wie er es die ersten 17 Jahre seines Lebens erlebt hat, beschreibt er so: "Gaza ist ein großes Gefängnis. Ich habe keine einzige schöne Erinnerung an meine Kindheit. Nichts. Nur schlechte Erinnerungen. Ich habe schon damals Onkel verloren, zweimal zerstörte Häuser. 2008 wurde meine Schule kaputt gemacht. In Gaza gibt es keine Zukunft, kein Leben für morgen. In Gaza haben Kinder keine Kindheit. Ich habe kein Spielzeug gehabt, es gibt keine Spielplätze. Es gibt nichts, gar nichts. In Gaza gibt es kein normales Leben."

"Ich denke an meine Oma"

Und die Hamas, die dort herrscht? "Israel soll sich an der Hamas rächen. Die Leute in Gaza wollen nur in Ruhe leben", betont Mansor Abu El Hosna, der wie sein Bruder Osama im Zuge der Operation Luxor unter falschen Verdacht geraten war, immer wieder. Er wolle sich nicht politisch äußern, sondern "als Mensch. Ich bin kein Politiker. Ich denke an meine Oma, die sechs Krankheiten hat und Medikamente braucht. Was soll sie tun? Ich weine die ganze Zeit."

Was ist mit dem Leid, das die Hamas in Israel verursacht hat? Die toten Kinder, die vielen umgebrachten Menschen in Israel, die in den Gazastreifen verschleppten Geiseln? "Wer ein gutes Herz hat, soll an die Menschen auf beiden Seiten denken. Ich bin als Mensch aus Gaza gegen jede Gewalt, von beiden Seiten", betont Abu El Hosna und sagt: "Ich habe keine Botschaft oder politische Meinung, sondern will nur eines sagen: Lasst die unschuldigen Menschen in Ruhe, auf beiden Seiten. Sie sterben ohne Grund, auf beiden Seiten." (Lisa Nimmervoll, 14.10.2023)