Die Schweiz erscheint mir wie ein Wimmelbuch von Ali Mitgutsch. Ich verlor mich als Kind stundenlang in den Szenen von Hier in den Bergen oder Rundherum in meiner Stadt. Bei Mitgutsch ist die Welt noch in Ordnung. Lediglich harmlose Lausbubenstreiche und der kleine, freche Hund sorgen für Aufregung. Streit gibt es nur, wenn die Gartenhecke nicht ordentlich geschnitten oder der Müll nicht sauber getrennt wird.

Wie die Wimmelbücher scheint die Schweiz aus der Zeit gefallen zu sein. Am kommenden Sonntag wählen ihre Bürgerinnen und Bürger ein neues Parlament.

Hohes Vertrauen in Verwaltung

Wer bei der Wahl für ein Amt kandidiert, erntet Anerkennung und Respekt. Anstand und Korrektheit, die anderswo längst verloren scheinen, werden in der Schweiz hochgehalten. Was in der Öffentlichkeit als Skandal gilt, wäre in Österreich nicht einmal eine Schlagzeile wert. Gemauschelt und paktiert wird auch in Bern, aber eben auf anderem Niveau. Das Vertrauen in die Verwaltung ist hoch, auch wenn es während der Corona-Pandemie ein paar Kratzer abbekommen hat. Der höchste Beamte, der nicht gewählte achte Bundesrat, ist ein echter Intellektueller, wie es sie hierzulande in der ministeriellen Verwaltung aufgrund der politischen Besetzungen längst nicht mehr gibt. Die Universitäten zählen zu den besten der Welt. Die Bahn ist immer pünktlich, außer der Zug kommt aus Deutschland. Die Schweiz lebt ein permanentes Klischee, aber ein angenehmes. Ich kann das sagen, ich habe zwei Jahre dort gelebt.

Schweiz Flagge Fußball
Bestuhlung vor einem EM-Qualifikationsspiel im Jahr 2010: Wimmelbild mit Schweizer Flaggen.
Imago/Sportfotodienst

Das Problem bei all dem scheint mir, dass die Schweiz zu selbstvergessen denkt und in sich gewandt handelt. So wie ich als Kind stundenlang auf Wimmelbücher starren konnte, starrt die Schweiz auf sich selbst. Das ist ihre größte Schwäche.

Reines Versagen

Dabei steckt das Land längst in Abhängigkeiten, ohne sich das einzugestehen. Das Ende der Credit Suisse wurde als reines Versagen des Managements dargestellt; Kaum jemand thematisierte, wie stark der Druck der USA war, die Bank abzuwickeln. Die EU hat die Schweiz auf ein Abstellgleis "parkiert". Die Verhandlungen zu einem neuen Rahmenabkommen stocken, und die Regierung bekommt nicht mehr die notwendigen Gesprächstermine in Brüssel. Das hat schwerwiegende Folgen, unter anderem für Wissenschaft und Universitäten. Der Schaden durch den Ausschluss aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon lässt sich durch Geld nicht kompensieren. Selbst Großbritannien hat es nach dem Brexit geschafft, wieder aufgenommen zu werden.

Russlands Krieg gegen die Ukraine scheint die Schweiz nichts anzugehen. Diese Indifferenz wird sich rächen. Timothy Snyder warnte in einem Interview Anfang Juli im STANDARD, dass Neutralität nicht zu moralischem Nihilismus verkommen dürfe. Das gilt aber nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Österreich. Europa ist heute viel vernetzter und verschränkter als je zuvor.

Inbegriff für Widerstand

Sich bei Krisen einfach in das Réduit – während des Zweiten Weltkriegs der Inbegriff für den Schweizer Widerstand – zurückzuziehen, das reicht heute nicht mehr. Diesen Herausforderungen wird wohl auch eine neue Schweizer Regierung nicht gewachsen sein. Es fehlt leider das öffentliche Problembewusstsein im Wimmelbuchland. (Philippe Narval, 16.10.2023)