Als Tolstoi Krieg und Frieden schrieb, hatte er es gut. Das weltweite Netz, das sich zwischen der Unendlichkeit und der Enge einer Gummizelle spannt, war noch nicht erfunden. Niemand schrieb ihm "Der Bolkonskij ist gar nicht gestorben!" oder "Lügenfresse! Es hat nie einen Krieg gegeben!" oder "Napoleon hat sich nur bedroht gefühlt, es war sein gutes Recht!". Keiner warf Natascha einen unfeministischen Lebenswandel vor.

Smartphone Social Media
Immer und überall mit dem Smartphone unterwegs: Jeder Gedanke kann in Echtzeit weltweit verbreitet werden.
AP / Erin Hooley

Nichtlernenwollen jedes Einzelnen

Aber die Zeiten Tolstois sind vorbei (und das ist, offen gesagt, gar nicht so schlecht). Die Zeiten von Krieg und Frieden sind es nicht. Es sieht so aus, als ob dieses Schwingen zwischen Tod und Leben systemimmanent für den Menschen, der nicht lernen will, wäre. Nur wird nun dieses Nichtlernenwollen jedes Einzelnen mittlerweile in Echtzeit worldwide verbreitet – ja jeder noch so aberwitzige Gedanke, jede noch so hirnverbrannte Erklärung, jeder noch so perfide Manipulationsversuch, jede noch so unverschämte Tatsachenverdrehung.

"trigger warnings"

Der Krieg wird natürlich längst im Netz geführt, und das Netz vergisst nichts. Löschung vor Auslöschung, digitales Auge um digitales Auge. Über dem gut befüllten Schützengraben fliegen Hashtags und "trigger warnings". An diesem Krieg beteiligen sich Staaten, Einzelkämpfer, Tycoons, diverse Gruppierungen. Die Wahl ihrer Waffen: unter anderem Desinformation und Überprüfbarkeit.

Tolstoi hätte nicht schlecht gestaunt, was alles möglich ist. (Julya Rabinowich, 16.10.2023)