Adva Gutman-Tirosh und Lee Dan trösten einander vor einer Wand mit Postern von Vermissten.
Viele Israelis suchen auf Social Media nach ihren Verwandten. Die Hamas nutzt die Facebook-Accounts ihrer Opfer, um deren Angehörige zu bedrohen und zu verspotten.
REUTERS/RONEN ZVULUN

Die Hamas verwendet offenbar die Social-Media-Accounts ihrer isrealischen Geiseln, um Livestreams mit terroristischen Inhalten zu verbreiten, wie die "New York Times" berichtet. In dem Bericht ist die Rede von Gali Shlezinger Idan, die in einem Kibbuz nahe der Grenze zum Gazastreifen lebte.

Am Tag des Angriffs der Hamas am 7. Oktober wurde sie entführt. Hamas-Terroristen nutzten ihren Facebook-Account, um per Livestream zu zeigen, wie sie und ihre Familie als Geiseln gehalten wurden. Während der 43-minütigen Übertragung zwangen die Bewaffneten Idan und ihre Familie, auf einem Fliesenboden zu kauern, während ringsum Raketen und Schüsse in ihr Wohnhaus einschlugen. Freunde und Verwandte verfolgten die dramatischen Szenen mit. Sie kritisieren nun die Plattformen für die Verbreitung terroristischer Inhalte.

Social Media als Waffe

Laut dem Bericht handelt es sich um eine neue Taktik der psychologischen Kriegsführung der Hamas. In mindestens vier Fällen loggten sich die Hamas-Mitglieder in die persönlichen Social-Media-Konten ihrer Geiseln ein und übertrugen dort Live-Material von den Anschlägen am 7. Oktober. In den Tagen danach infiltrierte die Hamas auch die Facebook-Gruppen, Instagram-Konten und Whatsap-Chats ihrer Geiseln, um Todesdrohungen und Aufrufe zu Gewalt zu verbreiten.

Nach Angaben der israelischen Familien und ihrer Freunde nahmen Hamas-Mitglieder auch die Mobiltelefone der Geiseln an sich, um Freunde und Verwandte anzurufen und um sie zu bedrohen und zu verspotten.

Dass extremistische Gruppen Social Media für ihre Zwecke nutzen, ist natürlich nicht neu, aber dass Entführungen live auf Plattformen wie Facebook gestreamt werden, sehr wohl, sagt Thomas Rid, Professor für strategische Studien an der Johns Hopkins University. Social Media werde zu einer Waffe gemacht, "wie wir sie noch nie gesehen haben". Diese neue Taktik ziele insbesondere darauf ab, Freunde und Verwandte der Opfer zu erschüttern. Was die Lage umso schwieriger macht: Soziale Medien sind auf der Suche nach vermissten Angehörigen zu einem Rettungsanker für Freunde und Familien geworden.

Kritik an Meta

Die Kritik der Hinterbliebenen richtet sich nun auch gegen Meta. Das Unternehmen selbst gab keine Stellungnahme zu den konkreten Fällen ab, teilte jedoch mit, dass es ein "spezielles Operationszentrum mit Experten, die fließend Hebräisch und Arabisch sprechen, eingerichtet habe, um diese sich schnell entwickelnde Situation genau zu beobachten und darauf zu reagieren".

Zwei Mitglieder des für Facebook zuständigen Sicherheitsteams bestätigten gegenüber der "NYT", dass die Hamas Zugang zu den Facebook-Konten der israelischen Geiseln hatte und Livestreams sendete. Die betroffenen Konten wurden inzwischen auf "Privat" gestellt sowie die Livestreams entfernt.

Eine Aufzeichnung des Livestreams zeigt Idan (50) und ihren Mann Tzachi (51), die mit ihren beiden jüngsten Kindern, einem Mädchen und einem Jungen, auf dem Boden kauern. Der Junge (7) weinte und fragte: "Wo ist meine Schwester?" Rettungskräfte fanden später die Leiche der ältesten Tochter von Idan, Mayan, die vor kurzem 18 Jahre alt geworden war. Die Hamas-Angreifer hatten sie erschossen. Die dritte Tochter des Paares war nicht zu Hause. Idan und ihre Kinder wurden schließlich zu Hause gelassen; ihr Mann wurde als Geisel genommen.

Die Hamas übernahm auch die Kontrolle über das Facebook-Konto von Dikla Arava (50), einer weiteren Bewohnerin von Nahal Oz. Die Angreifer nutzten den Account, um einen Livestream zu starten. Während der 20-minütigen Übertragung wurde der Teenager-Sohn von Frau Arava gezwungen, nach draußen zu gehen und seinen Nachbarn zu sagen, dass es sicher sei und sie herauskommen sollten. Arava, ihr Partner und ihre drei Kinder wurden alle von der Hamas entführt.

Psychologische Kriegsführung

In der Vorwoche wurde auf einem der Hamas nahestehenden Telegram-Kanal ein Video veröffentlicht, das eine von Aravas Töchtern in Gaza zeigt. Am 7. Oktober wurde auf dem persönlichen Facebook-Konto von Bracha Levinson, einer Bewohnerin des Kibbuz Nir Oz in der Nähe von Gaza, ein Live-Video veröffentlicht. Man sah sie unbeweglich in einer Blutlache auf dem Boden liegen, umgeben von Männern mit Waffen. Levinsons Haus wurde später bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ihre Familie glaubt, dass sie bei dem Angriff getötet wurde.

Shir Matan, eine Studentin in Tel Aviv, war auf der Suche nach ihrer 27-jährigen Cousine. Diese hatte das "Tribe of Nova"-Musikfestival besucht, als sie von der Hamas angegriffen wurde. Fünf Stunden nach dem Überfall erschienen mehrere seltsame Posts auf der Instagram-Seite ihrer Cousine. "Da waren Stimmen auf Arabisch und nur schlurfende Füße", wird Matan zitiert. "Dann sagte jemand auf Arabisch 'Schlampe'." Das Video wurde nach zehn Minuten gelöscht, und seitdem wurde nichts mehr auf dem Konto gepostet, sagte sie.

Zwei israelische Familien berichteten, dass sie auf den Facebook-Seiten ihrer vermissten Angehörigen ebenfalls Beiträge mit einem einzigen arabischen Wort – Tod – gesehen hätten, bevor sie gelöscht wurden.

Viele Israelis suchen in den sozialen Netzwerken weiterhin nach Lebenszeichen ihrer Verwandten und Freunde. Lian Gold, eine DJane in Tel Aviv, hat eine Instagram-Seite und einen Telegram-Kanal mit dem Namen "WeAreOneIsrael" eingerichtet, um Bilder und Kontaktinformationen der Vermissten zu veröffentlichen. "Ich erhalte Nachrichten, in denen ich gefragt werde: 'Bitte, bitte helfen Sie mir, bitte, bitte, bitte'", sagte Gold. "Was kann ich also tun? Ich poste es einfach und hoffe, dass ich etwas finde." (red, 19.10.2023)

Links

Bericht der "New York Times" (Paywall)

Sexualisierte Gewalt in Nahost: Sagt gefälligst was!