Amanda Piña Exótica 
Amanda Piña setzt massiv auf die Reize des alten Exotismus.
Tammo Walter

Es stimmt, die europäischen Kulturen neigen zur Vergesslichkeit. Das trifft auch Kunstschaffende, die möglicherweise vorgestern noch groß beklatscht wurden, gestern verblassten und heute völlig unbekannt sind. Die Choreografin Amanda Piña will das nicht hinnehmen und erinnert zum Auftakt der Choreographic Platform Austria (CPA) in ihrem jüngsten Stück Exótica im Tanzquartier an vier Figuren, die von der Geschichte verweht waren.

Dabei handelt es sich um drei Tänzerinnen und einen Tänzer, die ganz dem zum Exotismus neigenden Geschmack der Bohème in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entsprachen. Dieser Hang zur Bewunderung und zugleich Isolation von Faszinosa aus geografischer und kultureller Ferne wird seit gut vierzig Jahren mit Nachdruck und Erfolg kritisiert. Ganz im Sinn der heutigen postkolonialen Bewegung erinnert Piñas Exótica daran, dass dem eben nicht immer so war.

Spektakuläre Reize

Was das Stück interessant, aber auch ambivalent macht, ist, dass die Choreografin darin selbst massiv auf die spektakulären Reize des alten Exotismus setzt: mit Dschungel-Bühnenbild, orientalisierenden Kostümen und Tänzen. Piña weiß, dass die vier dem Vergessen Entrissenen einst vom Zeitgeschmack profitierten: "La Sarabia" reüssierte als spanische Tänzerin, Nyota Inyoka gelang als "asiatische Perle" eine glänzende Karriere, François Benga wurde zum Star bei den Folies Bergère, und die wohlhabende Leïla Bederkhan setzte erfolgreich auf das Label "orientalische Prinzessin".

Die vier waren also tüchtige Leute im damaligen rassistischen Europa, dessen diskriminierende Mentalität schon von Josephine Baker angeprangert wurde. Bakers Ruhm hat sich erhalten. Gut also, dass Amanda Piña als eine unter vielen Kunstschaffenden daran arbeitet, den Horizont in Sachen des historischen Kolonialismus zu erweitern.

Neuer Kolonialismus

Hier liegt auch ein Haken. Der heutige Antikolonialismus im Tanz fokussiert immer noch auf die Vergangenheit und ihren Nachhall, ignoriert aber massive neue Formen des Kolonialismus. Dabei geht es nicht nur um Putins Gewalt gegen Tschetschenien, Georgien und die Ukraine oder etwa Chinas "Ansprüche" hinsichtlich Taiwan oder Tibet, sondern auch um supranationalen industriellen Neokolonialismus. Diesen hat Amanda Piña wohl bereits in früheren Statements aufs Korn genommen: den Raubbau an sogenannten Bodenschätzen etwa oder die Folgen der Tourismuswirtschaft in "exotischen" Ländern.

Aber auf den elektronischen Kolonialismus, über den seit Ende der 1970er-Jahre publiziert wird, oder dessen Nachfolger, den digitalen Kolonialismus, hebt auch sie nicht ab. Die Publikationen dazu mehren sich, das aktuelle Buch der feministischen Whistleblowerin Frances Haugen enthält Hinweise darauf, was die Facebook-Algorithmen weltweit anrichten. Dennoch: dröhnendes Schweigen vonseiten der Postcolonials.

Mit diesen wirkt Piñas Exótica, abgesehen vom formalen Konservativismus des Stücks, inhaltlich rückwärtsgerichtet und ignorant gegenüber den Notständen unserer Gegenwart. (Helmut Ploebst, 20.10.2023)