Achtundneunzig Prozent. So hoch ist der Anteil der unselbstständig Beschäftigten in Österreich, die einem Kollektivvertrag unterliegen. Das Land rangiert damit unter Europas Spitzenreitern – lediglich Italien liegt mit stolzen hundert Prozent noch darüber. EU-Schlusslicht ist Litauen, wo die Abdeckung acht Prozent beträgt.

Die hohe Rate in Österreich führt dazu, dass eine EU-weite Debatte hierzulande auf kaum Resonanz stößt: Seit Jahren wird in Brüssel diskutiert, ob die EU einen gesetzlichen Mindestlohn brauche. Im Frühjahr 2022 einigten sich EU-Staaten und -Parlament auf verbindliche Standards. Brüssel darf zwar nicht direkt in die Lohnpolitik der Mitgliedsstaaten eingreifen – aber der Modus, wie Mindestlöhne festgelegt und aktualisiert werden, wurde einheitlich geregelt. Davon sollen laut der EU-Parlamentarierin Evelyn Regner (SPÖ) 25,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und -nehmer EU-weit profitieren.

Kein Mindestlohn in Österreich

In Österreich jedoch habe diese EU-Mindestlohnrichtlinie "wenig Auswirkung", teilte die Gewerkschaft im Herbst 2022 mit. Im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Staaten gibt es hierzulande auch keinen gesetzlichen Mindestlohn. Der Grund: die besagte hohe kollektivvertragliche Abdeckung, in deren Rahmen ohnehin Lohnuntergrenzen je Branche festgelegt werden.

Im Gastronomiesektor würde ein Mindestlohn besonders einschlagen: 54 Prozent der Beschäftigten würden mehr Geld erhalten, wenn 2.000 Euro brutto als monatliche Untergrenze gelten würden.
Im Gastronomiesektor würde ein Mindestlohn besonders einschlagen: 54 Prozent der Beschäftigten würden mehr Geld erhalten, wenn 2.000 Euro brutto als monatliche Untergrenze gelten würden.
Heribert Corn, DER STANDARD

Aber ist die Mindestlohndebatte deshalb wirklich irrelevant für Österreich? Nein, sagt eine neue Studie des Wiener Momentum-Instituts, die dem STANDARD vorliegt.

Der arbeitnehmernahe Thinktank hat berechnet, wie sich drei unterschiedlich hohe Mindestlöhne – 2.000 Euro brutto, 2.500 Euro brutto und 2.000 Euro netto, was rund 2.800 Euro brutto entspricht – auf die Löhne auswirken würden.

Durchaus beträchtlich, lautet die Antwort. Im geringsten Mindestlohnszenario – den 2.000 Euro brutto – würden heuer rund 280.000 unselbstständig Beschäftigte mehr Geld bekommen. Beim höchsten Szenario, den 2.000 Euro netto, wären es gar eine Million. Das wäre ungefähr jeder vierte Arbeitnehmer im Land – insgesamt gibt es in Österreich knapp vier Millionen unselbstständig Beschäftigte.

Mehr als im Kollektivvertrag

Was aber ist die Ursache, warum Mindestlöhne in Österreich trotz der hohen Kollektivvertragsabdeckung einschlagen würden? Ein Mindestlohn von beispielsweise 2.000 Euro brutto wäre höher als jene Lohnuntergrenzen, die in Österreichs Kollektivverträgen festgelegt sind, unterschiedlich je nach Branche.

Laut Produktionsgewerkschaft Pro-Ge lag Österreichs kollektivvertragliche Lohnuntergrenze im Vorjahr über alle Branchen hinweg bei 8,65 Euro brutto pro Stunde. Ein Mindestlohn von 2.000 Euro brutto würde aber einem Bruttostundenlohn von 11,54 Euro entsprechen, also deutlich mehr.

Das Momentum-Institut hat sich auch angesehen, welche Branchen am stärksten betroffen wären. Spitzenreiter: Gastronomie und Beherbergung. Im Gastro-Sektor bekämen bei einem Mindestlohn von 2.000 Euro brutto 54 Prozent der Beschäftigten mehr Gehalt; gar 88 Prozent wären es bei 2.000 Euro netto. Bei den Hotels würden 38 Prozent (bei 2.000 Euro brutto) mehr als derzeit verdienen. Überdies profitieren Frauen mehr als Männer – weil sie weniger verdienen.

Keine "Zurufe in der Lohnpolitik"

Wie aber steht es um die politische Realisierbarkeit des Mindestlohns in Österreich? Derzeit haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer – konkret Gewerkschaftsbund (ÖGB) und Wirtschaftskammer – vereinbart, dass in sämtlichen Kollektivverträgen eine Lohnuntergrenze von 1.500 Euro brutto pro Monat gelten muss. Der ÖGB forderte im Vorjahr eine Erhöhung auf 2.000 Euro.

Allerdings müsse auch dies kollektivvertraglich festgelegt werden, wünscht sich die Gewerkschaft – nicht etwa per Gesetz. Auf "Zurufe in der Lohnpolitik" könne man verzichten, erklärte ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian im Juni. Die Arbeitnehmervertreter fürchten, dass ihnen die Verhandlungsmacht bei der Lohnfestsetzung entgleiten würde, würden Mindestlöhne von der Politik beschlossen.

Tatsächlich brächte ein gesetzlicher Mindestlohn offene Fragen mit sich: Wer soll beispielsweise in welchem Intervall etwaige Erhöhungen festlegen? Momentan geschieht das bekanntlich jährlich im Rahmen der Kollektivvertragsverhandlungen.

Beim gesetzlichen Mindestlohn hingegen, so ein häufiges Argument, könnten Mindestlöhne von Politikern nach Gutdünken angepasst werden. Beispielsweise könnte vor Wahlen mehr Erhöhung winken – und nachher umso weniger. (Joseph Gepp, 22.10.2023)