Demonstrantin hält ein Plakat hoch mit der Aufschrift
Einem neuen Bericht zufolge erreichen die Vitalzeichen der Erde neue Maximalwerte.
REUTERS / Arnd Wiegmann

Patientin Erde ist im Ausnahmezustand. Ihre Vitalzeichen haben neue Extremwerte erreicht, wie ein neuer Klimareport deutlich macht. Von den 35 Parametern des Planeten, die die Fachleute analysieren, liegen 20 im Bereich neuer Extreme. Dieser Befund spiegelt sich auch im Titel des Berichts wider: Man betrete in Sachen Klimastatus "unbekanntes Terrain".

Das mag angesichts der vielen faktenbasierten Prognosen, die für die kurz- und längerfristige Zukunft existieren, überraschen. Und doch haben Expertinnen und Experten angesichts eher konservativer Modelle festgestellt, dass die reale Situation oft schlimmer ausfällt als erwartet. Die zahlreichen Extremwerte seit Beginn der Messungen zeigen, dass es bereits zu ungeahnten Folgen des menschengemachten Klimawandels kommt.

Dies bewegte 2019 mehr als 15.000 Wissenschafterinnen und Wissenschafter dazu, einen ähnlichen Report zu unterzeichnen, der den Klimanotstand ausrief. Der jetzige Bericht, der im Fachjournal "Bioscience" erschien, ist sein Nachfolger. Beteiligt waren zwölf Expertinnen und Experten, darunter Johan Rockström, Direktor des renommierten Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

Die vergangenen Jahre waren für Österreich besonders heiß.

Neue Höchsttemperaturen

Klimatisches Neuland zeigte sich auch 2023 deutlich: Etliche Naturkatastrophen wie die Überflutungen in Libyen und zahlreiche extreme Hitzewelle hätte es ohne den menschlichen Einfluss auf den Klimawandel nicht gegeben. In Kanada setzten Waldbrände mehr als eine Gigatonne Kohlenstoffdioxid frei – viel mehr als der jährliche Emissionenverbrauch der kanadischen Bevölkerung. Extreme Höchstwerte wurden auch bei der Meerestemperatur gemessen, wohingegen das antarktische Schelfeis enorm zurückgegangen ist.

Die globale Durchschnittstemperatur lag bereits an 38 Tagen mehr als 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau, hebt der Report hervor. Bisher seien solche Tage selten gewesen. Im Juli kam es zum heißesten Tag seit Aufzeichnungsbeginn. Womöglich handelte es sich um die höchste Temperatur der vergangenen 100.000 Jahre auf der Erde, schreiben die Fachleute.

Zwar war es zuvor noch heißer, doch eine derart rapide Klimaveränderung ist extrem selten und betrifft zahllose Menschen und andere Lebewesen. Die Erderhitzung trägt Fachleuten zufolge zum derzeitigen Massenaussterben bei, weil sich viele Arten nicht schnell genug an die neuen Bedingungen in ihrem Lebensraum anpassen können.

Schon die Folgen für Menschen sind düster. Hitze, Nahrungsmangel und höhere Sterblichkeit dürften bald dafür sorgen, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung außerhalb der bewohnbaren Regionen leben, wenn nicht schnell gehandelt wird, heißt es im Report. Die Folgen der Klimakrise treffen vor allem die ärmsten Menschen, die selbst am wenigsten zum Problem beigetragen haben.

"Moralische Pflicht" von Forschenden

Drastische Worte sieht William Ripple von der Oregon State University, der mit Kollege Christopher Wolf Leitautor des Berichts ist, gerechtfertigt: "Es ist die moralische Pflicht der Forschenden und unserer Institutionen, die Menschheit vor einer potenziell existenziellen Bedrohung zu warnen und eine Führungsrolle beim Ergreifen von Maßnahmen zu übernehmen." Er will Klimafakten vermitteln und auch politische Empfehlungen geben.

Dazu gehören handfeste Tipps wie der Stopp von Subventionen für fossile Energieträger. Von 2021 bis 2022 haben sich diese staatlichen Unterstützungszahlungen dem Report zufolge etwa verdoppelt, auf rund eine Billion Euro.

Umgeleitetes Geld

Im Gegenzug wäre es nötig, Geld in die Hand zu nehmen, um Wälder besser zu schützen. Das seien derzeit nur rund zwei Milliarden Euro, wie ein weiterer aktueller Bericht offenlegt. Verschiedene wissenschaftliche Organisationen und die Umweltstiftung WWF berichten, dass 2022 im Vergleich zum Jahr davor eine größere Waldfläche zerstört wurde. Mit 6,6 Millionen Hektar ist sie fast so groß wie Bayern, 96 Prozent davon wurden der Auswertung zufolge in den Tropen vernichtet.

Neben internationalen Abkommen zum Ausstieg aus fossilen Energieträgern empfehlen die Expertinnen und Experten um Ripple und Wolf auch, auf pflanzliche Ernährung umzustellen.

Umverteilter Druck

Die Vorschläge dürften vielen nicht schmecken. Den Fachleuten zufolge führt jedoch kein Weg an solchen unpopulären Trendwenden vorbei, wenn der ökologische "Overshoot" – also der Verbrauch von mehr Ressourcen, als die Erde besitzt – verhindert werden soll. Die Fachleute stellen im Report "die vorherrschende Auffassung von endlosem Wachstum und übermäßigem Konsum durch reiche Länder und Einzelpersonen als nicht nachhaltig und ungerecht infrage".

Man müsse stattdessen zu einer Wirtschaft übergehen, die menschliches Wohlergehen in den Vordergrund stellt. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sollen laut Bericht berücksichtigt werden: "Solange die Menschheit weiterhin extremen Druck auf den Planeten ausübt, wird jede Strategie, die sich nur auf Kohlenstoff oder Klima konzentriert, den Druck nur umverteilen."

Ohne Maßnahmen, die das grundlegende Overshoot-Problem angehen, "sind wir auf dem Weg zu einem möglichen Zusammenbruch der natürlichen und sozioökonomischen Systeme", sagt Wolf. Durch besonnenes und dennoch rasches Handeln lässt sich bei der "Patientin Erde" vielleicht das Schlimmste verhindern. (Julia Sica, 24.10.2023)