Alain Finkielkraut (74) ist der einflussreichste französische Intellektuelle. Der Sohn jüdischer Polen ist bekannt für seine scharfe Zunge und polemische Voten, aber auch für einen Wissensfundus, den er seit 1985 in einer wöchentlichen Philosophiesendung des Radiosenders France-Culture aufblitzen lässt. Kurzzeitig Maoist gewesen, engagierte er sich im Mai 1968, dessen Werte er mittlerweile bekämpft. Als Vertreter der "nouveaux philosophes" näherte er sich später rechten Positionen.

In den Vorstadtkrawallen von 2005 machte er eine ethnische Komponente aus; er legte sich mit Feministinnen und Palästinenserverbänden an. Sehr präsent in den Pariser Debatten, wurde er als Zuschauer einer Gelbwesten-Demonstration antisemitisch beschimpft. 2014 wurde er in die Académie Française, das exklusive Gremium der französischen Sprache und Intelligenzia, aufgenommen.

Im STANDARD-Interview kritisiert er Europa, kritisiert er Israel – und ihn erschreckt, wie viele Anhänger die Hamas trotz ihrer Gräueltaten weltweit hat.

Der französische Philosoph Alain Finkielkraut gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen.
Der französische Philosoph Alain Finkielkraut sorgt sich um die Juden in Frankreich.
AFP/LUDOVIC MARIN

STANDARD: Die Hamas galt lange als möglicher Gesprächspartner der Europäer. Jetzt entpuppt sie sich als Terrormiliz, die auf einen Schlag tausend Menschen umbringt und Angst und Schrecken verbreitet. Wundert Sie das?

Finkielkraut: Erstaunlich ist höchstens die extreme Gewalt ihres jüngsten Angriffs. Ansonsten habe ich mir über die Hamas nie Illusionen gemacht. Sie heuchelt nicht, wenn sie in ihrer Charta ausdrücklich festhält, Palästina reiche von Jordanien bis ans Mittelmeer. Sie will Israel also auslöschen. Deshalb verlangt sie gar nicht erst, dass Israel die besetzten Gebiete räumt – sie will ganz Israel vernichten. Die Europäer brauchten schon viel Naivität, um die Hamas als Gesprächspartner zu sehen. Einzelne Islamologen haben die Hamas früher als Alternative zum IS (Islamischer Staat, Anm.) gepriesen. Dabei ist sie genau dasselbe.

STANDARD: Was versucht die Hamas zu signalisieren, wenn sie Kinder ermordet und dergleichen verbricht?

Finkielkraut: Eben dass sie die Israelis insgesamt vernichten will. Die Hamas hat es sich zur Mission gemacht, mit dieser Barbarei so viele Israelis wie möglich auszumerzen. Was mich erschreckt, ist zu sehen, wie viele Anhänger sie andernorts hat, wenn man auf die Videos in den sozialen Medien oder die Solidaritätsdemos im Libanon, im Jemen, in der Türkei oder im Westjordanland abstellt. Das kann einen zur Verzweiflung treiben.

Wie soll eine Koexistenz mit einem Palästinenserstaat möglich sein, wenn Israelis auch aus dem so nahen Westjordanland mit Raketen und Pogromen angegriffen werden können? Wenn die Terrorbande der Hamas sogar Wahlen gewinnt, weil die Palästinenserbehörde völlig diskreditiert ist?

STANDARD: Hat die Hamas wegen der sozialen Misere der Gaza-Jugend oder wegen der religiösen Komponente so viel Zulauf?

Finkielkraut: In erster Linie wegen des Islam. Er ist eine Kraft, die seit der iranischen Revolution und der westlichen Niederlage in Afghanistan ein globaler politischer Faktor geworden ist. Der Jihad vermittelt jungen Palästinensern ein Gefühl des Stolzes. Ich will die soziale Misere in Gaza nicht bestreiten. Nur ist nicht Israel, sondern die Hamas dafür verantwortlich. Sie ist eine der reichsten Terrororganisationen der Geschichte, namentlich dank Geldes aus Katar. Aber sie verwendet das Geld nicht für die Bevölkerung, sondern zu Waffenkäufen. Warum hat Gaza momentan kein Wasser? Weil die Hamas bis heute keine Kläranlage gebaut hat. Das soll den Hass auf Israel schüren.

STANDARD: Dazu trägt aber auch die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland bei.

Finkielkraut: Die Siedlungspolitik ist eine Tragödie. Sie demoralisiert Israel und schadet den Palästinensern. Sie schwächt die israelische Armee, die die Südfront um Gaza entblößen musste, um die Siedlungen im Westjordanland zu schützen. Das hat die Hamas-Attacke erst ermöglicht. Andererseits kann Israel das Westjordanland jetzt aus Sicherheitsgründen nicht räumen. Es liegt so nahe wie die abgebrannten Kibbuzim bei Gaza. Israel ist deshalb dazu verdammt, diesen schrecklichen Status quo beizubehalten.

STANDARD: Bis die Hamas ausgeschaltet ist?

Finkielkraut: In diesem Fall könnte man vielleicht auf ein Aufwachen der israelischen und palästinensischen Zivilbevölkerung hoffen, was die Regierungen langfristig zu einem Dialog zwingen würde. Die Palästinenser hätten die Möglichkeit dazu kürzlich gehabt, als viele Israelis gegen die siedlerfreundliche Justizreform demonstrierten. Die Palästinenser, ja die gesamte arabische Welt erblickten in diesen Straßenprotesten aber nicht etwa eine Chance, sondern nur die Möglichkeit zur Spaltung und Schwächung Israels. Wie der frühere israelische Außenminister Abba Eban einmal sagte: Die Palästinenser lassen keine Chance aus, ihre Chancen auszulassen.

STANDARD: Es sei denn, dass die Hamas einmal besiegt sein sollte.

Finkielkraut: Die einzige Lösung bestünde meiner Meinung nach in einem Gebietskompromiss. Die Israelis müssten sich aus dem größten Teil des Westjordanlands zurückziehen. An diese Stelle träte ein Palästinenserstaat, der aber zwischen Israel und Jordanien eingezwängt wäre; mehr Sinn würde wohl ein jordanisch-palästinensischer Bundesstaat machen. Wohlgemerkt: Das bleibt alles ein sehr fernes Ziel, das auch das Gaza-Problem nicht lösen würde. Derzeit ist es in Israel völlig unmöglich, auch nur darüber zu reden.

STANDARD: Warum?

Finkielkraut: Wegen des schweren Traumas, das die Israelis durch den Hamas-Angriff erlebt haben. Sogar im Jom-Kippur-Krieg von 1973, als der Geheimdienst bereits einmal versagt hatte, ging die Erschütterung nicht so tief wie jetzt. Der Feind kam von außen und blieb außen vor – jetzt aber ist er, wenn Sie so wollen, bis in den Garten, ja bis in die Küche eingedrungen. Er hat Pogrome veranstaltet, Zivilisten gejagt. Das jüdische Schicksal ist erneut über Israel hereingebrochen – über einen Staat, der geschaffen worden war, um die Verfolgungen und das unermessliche Leid der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg zu beenden. Bevor man weitergeht, muss man sich darüber zuerst einmal klar werden.

STANDARD: Haben auch die Juden in Europa Angst?

Finkielkraut: Die Bodenoffensive in Gaza wird viele Leben kosten, an Gegendemonstrationen in Frankreich und Deutschland wird es nicht fehlen. In Frankreich ist es seit dem 7. Oktober bereits zu über hundert antisemitischen Vorfällen gekommen. Dabei gibt es eine implizite Komplizenschaft von "Islamogauchisten" (Islam-Linken) an den Universitäten. Ich bin in großer Sorge für uns Juden in Frankreich. Möglich sind Terroranschläge, kleinere Pogrome.

STANDARD: In Paris gibt es unter den politischen Parteien immerhin eine breite Solidarität mit Israel, wenn man von der Links-außen-Partei "Unbeugsame" absieht.

Finkielkraut: Diese Partei bezeichnet die Massaker vor einer Woche als "bewaffnete Offensive der palästinensischen Kräfte unter Leitung der Hamas vor dem Hintergrund einer intensivierten Besatzungspolitik". Dabei war es Ariel Sharon, der die Siedlungen und die Armee aus Gaza abgezogen hatte. Linkenchef Mélenchon handelt aus Wahlopportunismus im Vorstadt-Departement Seine-Saint-Denis, wo die Bevölkerung aus dem Maghreb und dem Subsahara-Gebiet größtenteils für ihn stimmt.

STANDARD: Auch an der US-Universität Harvard macht ein Organisationskomitee Israel für die Lage im Nahen Osten "allein verantwortlich".

Finkielkraut: Der Links-Islamismus ist eine Spielart des Wokismus, die in den USA entstanden ist und sich an den europäischen Universitäten verbreitet. Zur Hamas-Attacke wird geschwiegen; aber wenn die israelische Bodenoffensive beginnt, wird es Proteste dagegen geben. Ich bin in Sorge. Wir Juden, Demokraten, Patrioten und Europäer werden es schwer haben.

STANDARD: In diesem Interview geht es nicht um die Ukraine. Trotzdem kurz die Frage: Wie stehen Sie als Sohn polnischer Eltern zu Russland?

Finkielkraut: Ich bin kein Putin-Freund, ich stehe auf der Seite der Ukraine, die sich gegen den russischen Kolonialismus Putins verteidigt. An Russland liebe ich Tolstoi, Tschechow und vor allem Wassili Grossmann, der uns in seinem Werk "Alles fließt" den Schlüssel gibt, um zu verstehen, was in Russland heute abläuft. Zugleich bin ich aber auch in Sorge über die Entwicklung der Situation in Polen. Wenn ich die Hassdemos gegen die Regisseurin Agnieszka Holland sehe, und dies unter dem bloßen Vorwand eines Migrantenfilms, dann macht mir das Angst. Ich weiß noch, was die extreme Rechte in Polen ist, wie sie wüten kann. (Stefan Brändle aus Paris, 26.10.2023)