Parag Khanna
Geostratege Parag Khanna: "Egal ob Trump oder Biden."
Parag Khanna

Parag Khanna ist überall – auf Konferenzen, in TV-Interviews, in den Bestsellerlisten, in den sozialen Medien. Der indisch-amerikanische Politikwissenschafter publiziert zu den Themen Migration, Geopolitik und Technologie. Er ist gerade aus den USA nach Singapur übersiedelt, wo ihn DER STANDARD am Telefon erreichte.

STANDARD: Sie schrieben einst, die Zukunft liege in Asien, und Singapur sei dessen Hauptstadt. Müsste das nicht eher Peking sein?

Khanna: Es ist ein Missverständnis, dass ein starkes Asien eine chinesische Hegemonie bedeutet. Asien ist immer multipolar gewesen. Jeder Versuch, über diese Vielfalt ein Reich zu stellen, ist gescheitert.

STANDARD: Aber strebt nicht China jetzt nach einer solchen Hegemonie?

Khanna: Das tut es, aber es wird nicht das bekommen, was es will. Wir sehen, dass der Widerstand gegen China wächst. Mithilfe der USA und der Europäer, etwa der Koalition der Quad, sorgen die Staaten Asiens dafür, dass die Region multipolar bleibt.

STANDARD: Wie schaut es denn mit Ihrem Geburtsland Indien aus? Starkes Wachstum, aber eine autoritäre Entwicklung unter Premier Narendra Modi.

Khanna: Indien weist ein gutes strukturelles Wachstum auf, dank einer jungen Bevölkerung und der Digitalisierung. Aber es gibt viele Hürden. Ich habe Zweifel, ob es die Herausforderung des Klimawandels und der wachsenden Trockenheit meistern kann, vor allem im Vergleich zu China, das seit 20 Jahren eine Strategie verfolgt.

STANDARD: Ist die Sorge, dass Indien zerfällt?

Khanna: Indien wird immer von seiner Geografie zusammengehalten. Aber die Menschen können fliehen, und das tun sie auch. Indien ist das Herkunftsland der größten Auswanderung der Welt. Wenn ein Land an Talent einbüßt, dann ist das eine Gefahr.

STANDARD: Das war Thema Ihres Buches "Move". Sie sagten darin ein Zeitalter der Migration voraus. Steht dem nicht die wachsende Abschottung in den USA und der EU entgegen?

Khanna: Massenmigration kann man nicht eindämmen. Bei freiwilligen Bewegungen sind wir bereits bei einer Milliarde Menschen, die Grenzen überquert haben, dazu kommen alle unfreiwilligen Asylwerber und Klimaflüchtlinge. Das liegt auch an der demografischen Schieflage in der nördlichen Hemisphäre. Es fehlt an jungen Menschen, an Arbeitskräften.

Auch eine Rechtsregierung wie in Italien könne Migration nicht stoppen, sagt Parag Khanna. Aber man könne sie kontrollieren.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: Aber auch der politische Widerstand im Norden nimmt ständig zu.

Khanna: Die Antimigrationsbewegung kommt immer in Wellen. In Deutschland gab es einst die NPD, dann ging sie wieder unter. Jetzt steigt es wieder mit der AfD. Aus meiner Erfahrung sollte man weniger darauf schauen, was die Politiker sagen, sondern auf die eigentlichen Zahlen, und die steigen. Man darf Antimigrationsbewegungen nicht mit der Realität verwechseln. Es gibt immer mehr Einwanderer, egal wer an der Macht ist. In Italien werden die Zahlen auch unter Giorgia Meloni steigen, das kann ich versprechen. Wir haben das in den USA gesehen, wo Donald Trump erklärt hat, er werde die Grenzen schließen. Zwar sind die Zahlen 2020 gesunken, aber das war nur wegen Covid. Im Vorjahr ging es wieder stark hinauf. Es ist egal, ob nächstes Jahr Trump oder Biden gewählt wird: Es gewinnt immer das Prinzip von Angebot und Nachfrage.

STANDARD: Aber gleichzeitig werden rechtspopulistische Parteien immer stärker. Gefährden wir damit nicht die Demokratie?

Khanna: Die Populisten werden nie lange an der Macht sein. Sie verlieren dann immer, weil sie nicht wissen, wie man regiert, wie man mit der Realität einer vielfältigen Gesellschaft umgeht. Auf die historische Dauer werden wir eine inklusive Politik haben, wir werden immer mehr wie Kanada werden und weniger wie Italien.

STANDARD: Und warum läuft die Einwanderungspolitik in Kanada so viel besser als in Italien?

Khanna: Kanada hat das Glück der Geografie. Es kann sich die talentiertesten Einwanderer aussuchen. Es kann noch eine demografische und wirtschaftliche Supermacht werden, wo eine vernünftige Politik herrscht. Aber auch Italien leidet nicht unter Einwanderung, sondern unter schlechten Politikern. Mit einer fähigen Regierung würde es anders aussehen.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Lage in Deutschland ein, das auch nach rechts rückt?

Khanna: Ich beobachte dort immer noch eine Aufnahmekultur, die Bereitschaft, eine vielfältige Gesellschaft zu akzeptieren, vor allem in den Städten. Aber wir sehen eine starke Entfremdung mit der ostdeutschen Provinz, wo sich die AfD behauptet. Aber das sind auch die Gebiete, die sich entleeren, Die Leute fliehen vor dem Populismus, auch wenn sie für den Populismus stimmen.

STANDARD: Viele Wähler sind nicht gegen Migration an sich, aber gegen illegale Migration.

Khanna: Illegale Migration zu stoppen ist sinnvoll. Die Bürger wollen sich darauf verlassen, dass Einwanderung kontrolliert und gut gemanagt wird. Wir sollten mehr Ressourcen dafür einsetzen, illegale Einwanderer legal zu machen und zu schauen, wo sie nützlich sein können. Dazu braucht man Maßnahmen von Grenzkontrollen über Sprachtraining bis zu einer beruflichen Eingliederung. All das könnten wir tun. Stattdessen haben wir emotionale Debatten, die uns nicht weiterbringen.

STANDARD: Welche Rolle spielt der Klimawandel für zukünftige Migrationsströme?

Khanna: Es wird entleerte Staaten geben, in denen die Menschen nicht mehr wohnen wollen. Das gilt auch für Teile von Indien. Und trotzdem wird Indien das bevölkerungsreichste Land der Welt bleiben. Es wird niemals die Möglichkeit für alle geben auszuwandern. (Eric Frey, 27.10.2023)