Das Prinzip der Kipppunkte ist bei vielen Menschen schon im Sprachgebrauch angekommen: Es geht um dramatische Veränderungen, die einmal angestoßen werden und dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Im Kontext der Klimakrise sind das zum Beispiel der Verlust des westantarktischen Eisschildes und das Schwinden des Amazonas-Regenwaldes. Manchen Fachleuten zufolge sind einige Kipppunkte im Klimasystem jetzt, mit 1,2 Grad Celsius mehr als in vorindustrieller Zeit, bereits erreicht.

Kipppunkte: So radikal könnten sie das Klima verändern
DER STANDARD

Doch auch in anderen Lebensbereichen haben Fachleute Kipppunkte ausgemacht. Die Anzahl von Katastrophen nimmt trotz Vorsorgestrategien immer schneller zu, hält die Universität der Vereinten Nationen fest, die nun im dritten Jahr den Report "Interconnected Disaster Risks" veröffentlicht hat. In der aktuellen Ausgabe warnen die Autorinnen und Autoren vom Institut für Umwelt und menschliche Sicherheit der UN-Universität mit Sitz in Bonn vor sechs Risikokipppunkten, die verheerende und unumkehrbare Folgen für Menschen hätten und die Gestalt der Erde stark verändern würden.

Als Risikokipppunkt gilt der Zeitpunkt, zu dem ein sozioökologisches System seine Funktionen nicht mehr erfüllen und Risiken nicht mehr abfedern kann. Das Risiko für Katastrophen wird damit wesentlich größer.

Für den Bericht werden jährlich etliche Katastrophen analysiert und ihre Zusammenhänge untereinander und mit dem Einfluss des Menschen dargestellt. Wenn sich ein System – etwa in Bezug auf Wasser oder Ernährung – verschlechtert, baue sich langsam Instabilität auf, heißt es in einer Aussendung. Mit einem Mal werde ein Kipppunkt erreicht, der das System grundlegend verändere, im schlimmsten Fall durch einen kompletten Zusammenbruch.

Sobald sich die Menschheit den Risikokipppunkten nähert, werden die Auswirkungen spürbar, sagt Jack O'Connor, einer der Hauptautoren des Berichts: "Wenn wir sie einmal überschritten haben, wird es schwierig sein, zurückzukehren." Es gehe nicht nur darum, Risiken und deren Ursachen zu erkennen, sondern auch um Lösungen dafür, wie sich das Überschreiten der Kipppunkte vermeiden ließe.

1. Eskalierendes Artensterben

Die Biodiversitätskrise gilt für viele Fachleute als noch ernster als die Klimakrise, auch wenn beide eng miteinander verbunden sind. Menschliche Aktivitäten setzen nicht nur durch Treibhausgase und globale Erhitzung in enormem Tempo Ökosysteme weltweit unter Druck, sondern auch durch Umweltverschmutzung, Raubbau, die Einführung gebietsfremder Arten sowie Landnutzung für Ackerbau und Viehzucht. Dadurch sterben Spezies mindestens zehn- bis 100-mal so schnell aus, wie es der natürlichen Aussterberate entspräche. "Der Mensch ist die einzige Ursache für das sechste Massensterben", sagt der österreichische Ökologe Franz Essl.

Gopherfrosch
Amphibien sind besonders stark vom derzeitigen Massenaussterben bedroht, darunter auch der Gopherfrosch.
Gerald Herbert / AP

Das belastet nicht nur die aussterbenden Arten und Tiergruppen (besonders verheerend bei Amphibien, von denen 41 Prozent vom Aussterben bedroht sind): Die Vernetzung verschiedener Lebewesen sorgt dafür, dass durch das Verschwinden wichtiger Arten massenhaft andere Spezies aussterben können. Wird hier ein bestimmter Punkt überschritten, können gesamte Ökosysteme zusammenbrechen.

Als Beispiel wird im Bericht die Georgia-Gopherschildkröte angeführt, die im Osten der USA verbreitet ist und als bedroht gilt. Die Höhlen, die sie gräbt, nutzen auch mindestens 350 weitere Arten, um sich vor Hitze und Kälte oder Raubtieren zu schützen. Verschwindet die Schildkröte, dürfte ihr etwa der Gopherfrosch folgen, der durch seinen Speiseplan Insektenpopulationen kontrolliert und damit Baumschädlinge verringert.

Die Georgia-Gopherschildkröte gilt als gefährdet - und als wichtige Art in ihrem Ökosystem.
Gopherschildkröten sind wichtig für viele andere Arten, weil sie mit ihren Höhlen für Schutzräume sorgen.
U.S. Fish & Wildlife Service / AP

2. Erschöpfung des Grundwassers

Süßwasser aus dem Boden versorgt mehr als zwei Milliarden Menschen mit Trinkwasser. Doch die Reservoirs werden in manchen Regionen nicht nur durch Trockenheit immer knapper: Grundwasser wird bereits jetzt zu 70 Prozent entnommen, um Landwirtschaft betreiben zu können, macht der Bericht deutlich. Mehr als die Hälfte der Grundwasserspeicher erschöpfen sich schneller, als sie sich natürlich füllen.

Im Vordergrund eine ausgehobene Lacke an Grundwasser, dahinter steht ein gelbes Bohrfahrzeug und ein weiß gekleideter Mann mit weißem Bart und blauem Turban.
Eine Brunnenbohrmaschine in Indien. Dort kommt man dem Kipppunkt Grundwasser immer näher.
UNU-EHS / Polina Schapova

In Österreich galten die Grundwasserstände im Frühjahr 2023 als so tief wie nie, generell liegen sie in Zentraleuropa zu niedrig und können sich nicht erholen. Der Risikokipppunkt ist laut Report erreicht, wenn der Grundwasserpegel so tief sinkt, dass bestehende Brunnen kein Trinkwasser mehr gewinnen können, was wiederum die Nahrungsmittelproduktion gefährdet. In Indien rückt der Risikopunkt immer näher, in Saudi-Arabien ist er bereits überschritten: Nachdem das Land in den 1990er-Jahren enorme Grundwassermengen zur Bewässerung von Weizen entnommen hatte und so zum sechstgrößten Weizenexporteur der Welt geworden war, versiegten die Brunnen.

3. Unerträgliche Hitze

Das Wasserproblem wird durch neue Extremtemperaturen und andauernde Hitzewellen noch verschärft, der Bedarf an Trinkwasser und Kühlung steigt. Die IPCC-Berichte gaben die konservative Schätzung ab, dass seltene Hitzeevents, die vor 1900 nur einmal alle zehn Jahre auftraten, in einer um zwei Grad wärmeren Welt fünf- bis sechsmal so oft vorkommen.

Mann benässt seine Hände mit einem Wasserstrahl, der aus einem Metallrohr kommt
Hitze wird zu einem immer größeren Problem.
UNICEF / Juan Haro

Hohe Temperaturen sorgten in jüngster Vergangenheit für jährlich 500.000 zusätzliche Todesfälle. Sie betreffen vor allem sehr junge und sehr alte Menschen, Personen mit Vorerkrankungen und solche, die durch ihren Beruf besonders exponiert sind. Doch auch junge, gesunde Personen leiden, wenn sie es länger als sechs Stunden in extremer Hitze aushalten müssen – was bei hoher Luftfeuchtigkeit bei Temperaturen ab 30 Grad zutreffen kann. Die wichtige Messgröße ist hier die sogenannte Kühlgrenztemperatur, die eine Kombination aus Temperatur und Luftfeuchtigkeit angibt. Ab 35 Grad kann sie, für mehrere Stunden ertragen, zu Organversagen und Hirnschäden führen.

Solche potenziell tödlichen Werte wurden bereits an Wetterstationen im Indusbecken und am Persischen Golf gemessen und dürften bis 2070 in Teilen Südasiens und des Nahen Ostens regelmäßig überschritten werden. Bis 2100 rechnen Fachleute damit, dass mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung jährlich an mindestens 20 Tagen derartige Bedingungen überstehen müssen.

Diagramm zeigt in Klimastreifen, um wie viel Grad es global im Durchschnitt wärmer geworden ist und fünf Szenarien, wie sich der Trend bis 2100 weiterentwickeln könnte
IPCC

4. Weltraumschrott

Das "Müllproblem des Weltraums", wie es im Bericht heißt, mag in dieser Liste überraschen. Es erscheint uns zumindest nicht unmittelbar lebensbedrohlich, wenn knapp 35.000 beobachtbare Satelliten – ein Viertel intakt, drei Viertel nur mehr Schrott – weit entfernt um die Erde fliegen (sowie Millionen von Trümmern, die kleiner als ein Zentimeter sind).

Künstlerische Darstellung von Weltraumschrott, der den Planeten Erde umgibt
Diese künstlerische Darstellung veranschaulicht das Weltraummüll-Problem.
ESA

Doch das stört nicht nur Milliardäre, die in den kommenden Jahren den Mond kolonialisieren wollen und unterwegs mit dem Weltraummüll zusammenstoßen könnten. Oftmals wird vergessen, dass wir uns auch beim Sammeln von Wetter- und Klimadaten – Unwetterwarnungen inklusive – auf funktionierende Satelliten verlassen. Dabei sind andere Anwendungen wie für GPS und Telekommunikation noch nicht einmal berücksichtigt. Wenn die Geräte, die sich mit 25.000 Kilometern pro Stunde fortbewegen, aufeinandertreffen, kann der Schaden groß sein – und es entstehen wiederum noch mehr Trümmer im Orbit.

Hier machen die Fachleute den Risikokipppunkt an jenem Zeitpunkt fest, an dem der Erdorbit so voller Weltraumschrott ist, dass ein Zusammenstoß eine Kettenreaktion an Kollisionen hervorruft. Bis 2030 könnten sich weitere 100.000 Objekte hinzugesellen, die in zehntausenden Kilometern Höhe um die Erde kreisen, Elon Musk will allein mit seinem Starlink-System zehntausende Satelliten beisteuern. Problematische Kollisionen werden also viel wahrscheinlicher.

5. Gletscherschmelze

Gletscher schmelzen derzeit doppelt so schnell wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Im besonders trockenen Winter 2022 gingen die Gletscher in Österreich laut Alpenverein im Vergleich zum Vorjahr um das 2,6-Fache zurück. Während der Gletscherschwund hierzulande eher die Forschung herausfordert, weil mit dem Eis Klimaarchive verschwinden, geht es in anderen Regionen um die Existenz: Mit Gletschern verschwindet die Quelle an Schmelzwasser, die als Trinkwasser und zur Bewässerung verwendet wird, und versiegt irgendwann.

Der riskante Kipppunkt, an dem ein Gletscher sein Maximalvolumen an abgehendem Schmelzwasser erreicht, ist bei kleineren Gletschern in Zentraleuropa, Westkanada und Südamerika bereits überschritten oder wird dies in den kommenden zehn Jahren tun, heißt es im Bericht. Das bringt in den Anden bereits für etliche Gemeinden während der Trockenzeit Probleme in der Trinkwasserversorgung mit sich, etwa in der Region rund um die Quelccaya-Eiskappe in Peru.

Schnee und Eis eines Gletschers in Peru schmelzen und tropfen herab
Verschwinden die Gletscher, gefährdet das weltweit die Trinkwasserversorgung von Millionen Menschen. Abgebildet ist Schmelzwasser am Pastoruri-Gletscher in Peru.
Martin Mejia / AP

Auch in asiatischen Gebirgen rechnen Fachleute mit verheerenden Folgen: Rund 100.000 Gletscher könnten in nächster Zeit im Himalaja, Hindukusch und Karakorum den Risikokipppunkt erreichen. Auf das Trinkwasser, das ihre Schmelze bringt, sind knapp 900 Millionen Menschen angewiesen.

6. Abnehmende Versicherbarkeit

Wie soll man sich gegen Naturkatastrophen versichern, die immer häufiger eintreten? Die Geldbeiträge müssten immer größer werden. In stark gefährdeten Regionen bieten Versicherungsunternehmen mittlerweile nur mehr in begrenztem Umfang Versicherungsschutz an – oder gar nicht mehr. In Australien soll das steigende Hochwasserrisiko etwa dafür sorgen, dass bis 2030 mehr als eine halbe Million Häuser nicht mehr versicherbar sind, Ähnliches dürfte sich in diversen Küstenregionen abspielen.

Tatsächlich sind seit 2015 Versicherungsprämien dort um bis zu 57 Prozent gestiegen, wo extreme Wetterereignisse zunehmen, heißt es in dem Report. Seit den 1970er-Jahren haben sich die Schäden durch wetterbedingte Katastrophen versiebenfacht. Weltweit soll es bis 2040 zu doppelt so vielen schweren Katastrophen kommen wie aktuell. Den Kipppunkt orten die Fachleute dort, wo Versicherungen fehlen oder unerschwinglich werden und somit das Sicherheitsnetz nach Katastrophen fehlt. Während sich wohlhabende Menschen leisten können, andernorts neu anzufangen, ist es für viele ärmere Menschen unmöglich, in sichere Gebiete umzuziehen. Wie schwierig ein Schicksalsschlag durch Naturkatastrophen ist, haben durch die Unwetter in diesem Jahr auch in Österreich viele zu spüren bekommen.

Mann steht bis zu den Knien in Wasser und Schlamm vor einem Haus
Im Juni kam es in der Steiermark zu verheerenden Überschwemmungen.
APA/FF AUSSEERLAND

„Indem wir maßlos unsere Wasserressourcen ausbeuten, die Natur und die Artenvielfalt zerstören und sowohl die Erde als auch den Weltraum verschmutzen, bewegen wir uns gefährlich nahe an den Rand mehrerer Risikokipppunkte, die genau die Systeme zerstören könnten, von denen unser Leben abhängt", sagt Zita Sebesvari, Hauptautorin des Berichts. Dadurch gehen auch immer mehr Möglichkeiten verloren, mit zukünftigen Katastrophenrisiken besser umzugehen.

Es ist nicht leicht, Lösungen für derart komplexe und miteinander verwobene Probleme zu finden. Den Fachleuten zufolge kann man zwei Arten unterscheiden, an die Probleme heranzugehen, nämlich Vermeidung und Anpassung. Beides ist sicherlich notwendig: Mit negativen Auswirkungen, die auf uns zukommen, müssen wir umgehen lernen, gleichzeitig müssen die Ursachen der verschiedenen Risikokipppunkte angegangen werden.

Außerdem lassen sich verzögernde und transformative Maßnahmen unterscheiden. Erstere gelten als "Business as usual"-Szenario, das die gefährlichen Entwicklungen nur verlangsamt. Effektiver seien aber die transformativen Herangehensweisen, die das System grundsätzlich umgestalten, um es zu stärken und nachhaltiger zu machen. Durch den hohen Aufwand werden diese aber selten angegangen, schreiben die Expertinnen und Experten. Dieses Umdenken sei besonders wichtig, sagt Sebesvari: "Kurz vor der UN-Klimakonferenz erinnert uns der Bericht daran, dass wir alle Teil der Lösung sind." (Julia Sica, 26.10.2023)