Zielona granica Green Border
Der Stacheldrahtzaun zwischen Polen und Belarus spielt eine wiederkehrende Hauptrolle in Agnieszka Hollands humanistischem Meisterwerk "Zielona granica".
Agata Kubis

Kurz nach der Weltpremiere von Agnieszka Hollands Zielona granica ("Green Border") auf den Filmfestspielen in Venedig kam es in Polen zu einem Eklat. Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro warf Holland vor, sie mache antipolnische Propaganda wie einst die Nazis. DER STANDARD hatte zum Zeitpunkt des Vorfalls eine Gelegenheit, mit der Regisseurin zu sprechen.

Ihre Rage war groß: "Ich bin ein Enkelkind von Holocaust-Opfern. Meine Mutter kämpfte während des Warschauer Aufstands. Von diesem kleinen Arschloch zu hören, ich mache Propagandafilme wie die Nazis, ist einfach eine Beleidigung. Er hat nicht einmal den Film gesehen. Er redet also von etwas, von dem er keine Ahnung hat. Aber seinesgleichen hat sich ja eine sehr kompakte Matrize geschaffen, in der Weiß Schwarz und Schwarz Weiß ist. Die Verfolger sind darin die Opfer und die Opfer die Verfolger."

Tochter eines jüdischen Kommunisten

Seither sind nahezu zwei Monate vergangen: Holland hat Ziobro wegen Verleumdung angezeigt, und die Wahl hat in Polen eine Mehrheitskoalition der Opposition gegen die PiS-Regierung ergeben. Sehr zur Freude Hollands, so ist anzunehmen, denn sie hatte einen Regierungswechsel nicht für möglich gehalten: "Das Problem der autoritären Populisten ist, dass sie die Gesetze brechen und verändern – das macht eine Wahlniederlage fast unmöglich. Aber vielleicht geschieht ja ein Wunder", sagte sie im September.

Aus ihrer kompromisslosen linksliberalen Haltung macht Agnieszka Holland kein Hehl. Die 1948 in Warschau geborene Filmemacherin mit jüdischer Abstammung väterlicherseits – ihr Vater war außerdem ein kommunistischer Journalist – blickt auf eine bewegte Karriere zurück. Ihre Anfänge beim Film bestritt sie als Assistentin bei Krzysztof Zanussi und Andrzej Wajda, ihr Durchbruch als Regisseurin gelang Anfang der 1980er-Jahre.

Agnieszka Holland
Agnieszka Holland mit dem Spezialpreis der Jury beim diesjährigen Filmfestival von Venedig.
EPA/ETTORE FERRARI

Dann ging es bergauf, aber immer ganz knapp unter dem Radar der Berühmtheit. Hitlerjunge Salomon von 1991 ist wohl ihr bekanntester Film, er öffnete ihr die Pforte nach Hollywood – wo sie auch bei Serien wie The Wire und House of Cards Regie führte – und hatte auf der diesjährigen Viennale schon einen Cameo-Auftritt: Im ungarischen Eröffnungsfilm Magyarázat mindenre ärgert sich ein konservativer Vater darüber, dass sein Sohn den Film im Geschichtsunterricht gesehen habe.

Holland ist also nicht erst seit gestern ein Dorn im Auge der Rechtskonservativen. Dass ihr packendes Fluchtdrama Zielona granica, das am Freitag und Samstag auf der Viennale zu sehen ist, in Polen zum Politeklat wurde, ist also nicht weiter verwunderlich. Der Film ist ein nahezu dreistündiger Parforceritt durch den menschenverachtenden Terror, der sich seit 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze abspielt. Dabei beginnt er ganz leise:

In einem Flugzeug sind Schlafende zu sehen, Mittelschichtsfamilien mit Frauen mit Kopftüchern. Und dann kommt es gleich einmal zu einer Irritation westlicher Vorurteile. Als nämlich eine der Frauen ihre Sitznachbarin auf Arabisch adressiert, versteht diese nichts. Sie ist Afghanin und allein unterwegs. Die Kommunikation zwischen der syrischen Familie und der Afghanin, die sich später zusammentun, läuft von da an in gebrochenem Englisch ab.

Grenzterror zwischen Polen und Belarus

Nach der Ankunft am Flughafen Minsk geht es mit dem Auto an die polnisch-belarussische Grenze. Selbst wenn der Fahrer sich noch mal eine hübsche Summe einsteckt, scheint der Weg nach Polen so gefahrenlos zu sein, wie den Flüchtenden suggeriert wurde. Auch deshalb sind viele Familien unter ihnen und Schwangere.

Zu einfach, wie sich schnell herausstellt. Denn in Polen wird die Gruppe von polnischen Grenzbeamten aufgegriffen und wortwörtlich zurück über den Zaun geschmissen. Da beginnt das grausame Pingpongspiel auf dem Rücken der Migranten, die zum Spielball zwischen zwei autoritären Regierungen wurden: der Regierung Kaczyński und der des belarussischen Präsidenten Lukaschenko.

Doch auch die EU lässt Holland nicht so einfach davonkommen. In einer Szene ihres Films bricht eine Aktivistin in Lachen aus, als jemand auf die europäischen Werte pocht. Holland sagt dazu: "Es gibt keine Reaktion vonseiten der EU angesichts der Verbrechen, die an der polnischen Grenze stattfinden. Sie unterstützen das also stillschweigend – wie im Mittelmeer auch."

Green border (Zielona Granica ) new clip official - Venice Film Festival 2023
The Upcoming

Greifbare Verzweiflung

Verzweiflung und Tränen sind nicht nur bei den Protagonisten und Protagonistinnen greifbar, sondern auch beim Publikum. Und so manches Gesicht sah nach der Weltpremiere des Films in Venedig von Tränen verquollen aus. Die Gefahr, die bei solch emotionalen Stoffen lauert, ist die der Realitätstreue. Wie stellte Holland sicher, dass sie sich trotz der bewegenden Einzelschicksale nicht von den Tatsachen entfernte?

"Wir haben die Vorgänge an der Grenze sehr gründlich dokumentiert und mit Hunderten von Leuten gesprochen. Wir haben einige Flüchtende sogar von Syrien oder Afghanistan aus über verschiedene Flughäfen bis nach Minsk und von dort aus bis zur polnischen Grenze begleitet. Bis dorthin konnten wir alles gut nachvollziehen. Aber die polnische Regierung richtete auf ihrer Seite eine große Sperrzone ein, und es war strengstens verboten, dort hinzugehen", so Holland.

Mir Tricks in die Sperrzone

Doch die Regisseurin fand einen Weg, der so gewitzt und eigenwillig ist wie sie selbst. Ihre Tochter Kasia Adamik, ebenfalls Filmemacherin, drehte zwischen 2014 und 2020 eine Serie für das polnische Fernsehen, die eine Fangemeinde unter Grenzbeamten hat: Denn anders als in Zielona granica sind sie in der Serie Wataha Action-Helden, die nebenbei noch humanitäre Hilfe leisten. Wurde also das Filmteam gefragt, warum es in der Sperrzone Fotos mache, verwies es auf die Serie. Das öffnete ein paar Tore.

Zielona granica ist keineswegs eindimensional, wie der Vorwurf von rechts behauptet. Holland erzählt sowohl aus der Perspektive der Geflüchteten als auch aus der eines Grenzbeamten, einer Anwohnerin und von Aktivisten, die unter erschwerten rechtlichen Bedingungen humanitäre Hilfe leisten – allerdings nie genug. Die aufreibende Sisyphusarbeit aller Beteiligten verbindet die Seiten miteinander, wenn Holland auch niemals aus den Augen verliert, wer hier die eigentlichen Opfer sind: die Flüchtenden. (Valerie Dirk, 27.10.2023)