Wladimir Putin sieht im neuerlich aufgeflammten Nahostkonflikt eine Chance, der weltpolitischen Isolation zu entkommen.
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Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, ist in tiefer Sorge. Denn die Lage im Nahen Osten hat alles verändert und zieht zur Freude Moskaus die internationale Aufmerksamkeit und Energie vom russischen Krieg in der Ukraine ab. Russland wiederum will nun international punkten und sich ausgerechnet als Vermittler und Friedensstifter hervortun – auch weil Kreml-Chef Wladimir Putin wohl in wenigen Monaten, im März 2024, erneut zur Wahl antreten wird und gern Positives auf internationaler Bühne vorweisen würde.

Am Donnerstag war eine Delegation der Hamas in Moskau. Es ging um die Freilassung von Geiseln im Gazastreifen. Einen Durchbruch konnte Moskau nicht präsentieren – obwohl sich Vizeaußenminister Michail Bogdanow auch schon in Katar darum bemüht hatte. Aber die Welt blickt inzwischen auf Russlands neue Diplomatieoffensive.

Krimineller Seitenblick aus Kiew

Und der Ukraine bleibt indes die Hoffnung, dass es in Nahost nicht zum Flächenbrand kommt. Bei seinem Überraschungsbesuch im Nato-Hauptquartier in Brüssel forderte Selenskyj unlängst, mit der Hilfe nicht nachzulassen. Auch am Donnerstag bat er eindringlich in einer Videoschaltung zum EU-Gipfel um Unterstützung. "Die Feinde der Freiheit sind sehr daran interessiert, die freie Welt an eine zweite Front zu bringen", warnte er. Doch die Solidarität bröckelt.

Besorgt verfolgt Kiew dabei auch Diskussionen in den USA, dem bisher wichtigsten Unterstützer. In seinen Appellen setzte der ukrainische Präsident die Hamas mit dem "Terrorstaat" Russland gleich, der Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübe und sich dabei vom Iran unterstützen lasse.

Zahlreiche Kontakte

Doch in Nahost will sich Russland als Vermittler positionieren. Die Krise dort sei für Russland ein "Geschenk des Himmels", zitierte die Financial Times einen ranghohen EU-Beamten. "Russland nutzt diese Krise aus – denn wenn es sich jetzt an eine Milliarde Menschen im Nahen Osten oder in der arabischen Welt wendet, kann es sagen: Sehen Sie, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Weltordnung funktioniert für sie nicht."

Traditionell unterhält Russland enge Kontakte zu Israel – aber eben auch zu den Palästinensern und sogar zur Hamas. Kreml-Chef Putin sagt: "Dieser Konflikt muss so schnell wie möglich beendet werden." Doch der russische Experte Alexander Baunow der Denkfabrik Carnegie bescheinigt ihm insgesamt eine langsame Reaktion; Tage dauerte es, bis Putin den Terror gegen Zivilisten verurteilte, ohne die Hamas direkt anzuprangern. "Die Versuchung, auf der Welle der Unterstützung für die Palästinenser mitzureiten, ist sehr groß und drängt Russland zu einer Annäherung an die Gegner Israels", erklärt Baunow.

Russland hat bei seinem politischen Kurs in dieser Sache vor allem auch die vielen Muslime im eigenen Land im Blick – zugleich verwies Putin selbst auch auf die vielen russischen Bürger in Israel.

Auf halbherzige Beileidskundgebungen reagierte Israel mit Missfallen, auf den Hamas-Besuch in Moskau sogar mit Verärgerung und forderte Russland auf, die Terroristen auszuweisen. Wichtiger: Im UN-Sicherheitsrat haben Russland und China einen Resolutionsentwurf der USA, der Israels Recht auf Selbstverteidigung betonte und eine humanitäre Feuerpause forderte, abgelehnt. Zugleich fiel aber auch Moskaus Vorschlag durch, der unter anderem die Forderung nach einem Waffenstillstand enthielt. Zwar hat die Führung des russischen Außenministeriums immer wieder Kontakt mit Hamas-Vertretern gehabt, auch vor dem neuen Krieg. Vorwürfe allerdings, dass Russland wegen seiner Kontakte auch zur Hamas im Gazastreifen etwas mit der Gewalt gegen Israel zu tun haben könnte, gelten als aus der Luft gegriffen.

Wieder auf diplomatischem Parkett

Gleichwohl kommt die Krise in Nahost Russland gelegen. Sie lenkt nicht nur vom Krieg in der Ukraine ab, sie bringt vor allem das international geächtete Land zurück aufs diplomatische Parkett. Ranghohe Vertreter der arabischen Welt fliegen in Moskau ein und aus. Schon länger sieht sich Putin zudem als Vorreiter bei der Entstehung einer multipolaren Weltordnung ohne eine Vorherrschaft der USA. Vollmundig bescheinigt Putin den USA Versagen in Nahost.

Moskau pocht auch aktuell wieder auf eine Umsetzung der Zweistaatenlösung – mit der Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaats neben Sicherheitsgarantien für ein Existenzrecht Israels. Fast täglich bestätigt der Kreml, dass in Moskau ein Besuch von Mahmud Abbas, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, vorbereitet werde. Einen Termin soll es bald geben. Putin hat Abbas zuletzt vor einem Jahr in Kasachstan getroffen.

Auch eine Wiederbelebung des Nahost-Quartetts, zu dem neben Russland die USA, die EU und die Vereinten Nationen gehören, kann sich Moskau vorstellen. Schon lange versteht sich Russland als Anwalt der arabischen Welt. Das Land könne seine engen Beziehungen zum Iran, zur Türkei, zu Saudi-Arabien und zu den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie zu Israel für die schwierige Diplomatie nutzen, meinte der Moskauer Politologe Fjodor Lukjanow.

"Die Feinde der Freiheit sind sehr daran interessiert, die freie Welt an eine zweite Front zu bringen." Wolodymyr Selenskyj warnt die EU davor, die Ukraine zu vergessen.

Nicht nur politisch – auch wirtschaftlich will man von der Krise in Nahost profitieren. Staatsmedien frohlocken, dass die Krise dauerhaft zu höheren Ölpreisen führt, wodurch mehr Geld in den Haushalt komme – auch für Putins Krieg gegen die Ukraine. Die Rüstungsausgaben sollen im kommenden Jahr auf fast ein Drittel des Gesamthaushalts steigen. Nach Aussagen von Finanzminister Anton Siluanow soll der Verteidigungsetat 2024 auf 10,8 Billionen Rubel (etwa 110 Milliarden Euro) wachsen – für einen Sieg gegen die Ukraine. Je höher der Ölpreis, desto stabiler auch der Rubel, der zuletzt im freien Fall war und nun auch dank anderer Maßnahmen wieder stärker geworden ist.

Dank Nahost scheint Russland derzeit auf der Erfolgsspur zu sein. Doch so einfach ist es nicht: Moskau sei sich dessen bewusst, dass Washington auch in zwei Konflikten gleichzeitig investieren könne, sagte der Politologe Alexej Makarkin der Zeitung MK. Aber Russland setzt darauf, dass zumindest weniger Waffen und Munition in der Ukraine ankommen. Und hofft, dass sich die Lieferungen insgesamt verlangsamen.

Armutsgefährdung

Die innenpolitischen Probleme Russlands aber bleiben in jedem Fall. Die Staatsduma, das russische Parlament, prognostizierte eine Zunahme der Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Russen um fünf Millionen. Die Zahl der Bevölkerung nimmt indes ab. Die Statistikbehörde Rosstat erwartet einen Rückgang der Bevölkerung bis Ende 2045 auf knapp 139 Millionen Menschen. Russlands Präsident Putin muss vieles angehen.

Schmerzlich: Kasachstan, über das viele Waren unter Umgehung der westlichen Sanktionen ins Land kommen, hat nach eigenem Bekunden die Lieferung von 106 Warenkategorien nach Russland eingestellt. (Jo Angerer aus Moskau, 29.10.2023)