Premier Benjamin Netanjahu
In Israel rückt die Gesellschaft zusammen – doch Premier Benjamin Netanjahu gerät in Bedrängnis.
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Es hat 29 Grad im Schatten, aber Benjamin Netanjahu trägt eine Daunenjacke. Tiefe Furchen durchziehen die Stirn des Ministerpräsidenten von Israel, während er den Generälen seinen Erklärfinger entgegenstreckt. Das ist die Bildsprache, die in diesen Tagen aus dem Büro des Regierungschefs an die Medien dringt: Seht her, hier ist er, der Wolodymyr Selenskyj des Nahen Ostens. Der allseits bewunderte Anführer im Kampf gegen einen ruchlosen Feind.

Mit der Realität hat dieser Propagandakitsch nur wenig gemein. Mitten im Krieg laufen jenem Menschen, der Israel länger regiert hat als jeder andere Politiker, die Menschen in Scharen davon. Mehr als zwei Drittel der Israelis erklärten zuletzt, sie hätten nur geringes Vertrauen in Netanjahus Fähigkeit, das Land durch diesen Krieg zu führen. In der Schockstarre nach dem 7. Oktober, die die ganze Nation spürbar zusammenrücken ließ, ist diese Distanzierung bemerkenswert.

Bereits eine Woche nach dem Hamas-Angriff fordern Kritikerinnen und Kritiker "Bibi muss weg!". Netanjahu habe das Land nicht ausreichend vor den radikalen Palästinensern geschützt. Politische Beobachterinnen und Beobachter sehen Netanjahus politische Karriere vor dem Ende.
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"Entscheidungen spät oder falsch"

Selbst Netanjahus engste Begleiter gehen auf Abstand. Hohe Parteifunktionäre kritisieren ihn zwar nicht öffentlich – hinter den Kulissen aber umso lauter. "Feig" sei Bibi, sagt einer. "Entweder er entscheidet gar nicht, oder er entscheidet falsch", ätzt ein anderer. Mindestens vier Regierungsmitglieder sollen den Rücktritt erwägen, um zu verhindern, dass das angegraute Image des Ministerpräsidenten auf sie abfärbt. Sie alle entstammen Netanjahus Likud-Partei.

Das Misstrauen gegenüber Netanjahu hat längst auch die Armee erfasst, und es beruht auf Gegenseitigkeit. Der Premier hat deshalb in seinem Büro einen eigenen Militär-Mediensprecher ernannt. Ein ungewöhnlicher Schritt, da diese Aufgabe eigentlich bei der gut ausgebauten Armee-Pressestelle liegt. Die Armeesprecher gehorchen aber dem Generalstabschef, und genau diesem würde Netanjahu nur allzu gerne die Alleinschuld für das Versagen des Sicherheitsapparats im Vorfeld des 7. Oktober zuschieben.

Im Unterschied zum Premier hat das Militär aber längst Fehler eingeräumt. Der oberste Kommandant des Militärgeheimdienstes sagte, er übernehme "die volle Verantwortung" für das Versagen der Dienste. Netanjahu hingegen, der laut verlässlichen Angaben vor einem drohenden Hamas-Überfall gewarnt worden war, weist jede Schuld von sich.

Dicke Luft in Kommandozentralen

Die dicke Luft zwischen Netanjahu und den Generälen ist kein Produkt des aktuellen Krieges. Durch sein Beharren auf dem Justiz-Coup hat Netanjahu sie gegen sich aufgebracht. Ihre Warnungen, die Reform gefährde Israels Sicherheit, schlug er in den Wind, den mahnenden Verteidigungsminister feuerte er. Den Kampfpiloten und Geheimdienstlern, die daraufhin mit Dienstverweigerung drohten, ließ er ausrichten, sie seien abgehoben und ohnehin verzichtbar. Wie unverzichtbar sie tatsächlich sind, beweisen sie nun Tag und Nacht im Luftraum über Gaza und in Kommandozentralen.

Wird Netanjahu zurücktreten? Das einzig Berechenbare an ihm, heißt es immer wieder, ist seine Unberechenbarkeit. Der Druck auf die Regierung jedenfalls steigt weiterhin massiv. Wann immer sich ein Minister oder eine Vertreterin der Regierungsparteien in der Öffentlichkeit blicken lässt, wird er oder sie lautstark ausgebuht. Niemandem ist entgangen, dass das Kabinett nur auf ein Thema fokussiert war – die Entmachtung der Justiz –, während Israels Sicherheit vernachlässigt wurde.

Bibis Rezept, um dem öffentlichen Zorn zu begegnen, ist, ihm auszuweichen. Drei Wochen lang dauerte es ab Kriegsbeginn, bis er das erste Mal vor die Presse trat, um Fragen zu beantworten. In der Zwischenzeit mussten Israelis zu US-Medien greifen, um mitzuverfolgen, was sich zu Hause tut. Mitten im Krieg mit der Hamas war zwar das Weiße Haus als Quelle verfügbar – nicht aber das Büro des Ministerpräsidenten von Israel.

Diese Funkstille schloss auch die Familien der Opfer mit ein. Angehörige der nach Gaza verschleppten Israelis beklagen, dass sich in den ersten zwei Wochen nach dem Massaker vom 7. Oktober zwar tausende Freiwillige und hunderte Journalisten bei ihnen gemeldet haben – aber kein einziger Regierungsvertreter.

Als die aus Gaza befreite Geisel Yocheved Lifschitz am vergangenen Dienstag vor die Medien trat, war kein Regierungsvertreter anwesend, um die 85-Jährige dabei zu begleiten. Niemand stand ihr beiseite, als sie hunderttausenden TV-Zuschauern von den exzellenten Bedingungen in Hamas-Geiselhaft erzählte: Man habe ihr nicht nur Shampoo, sondern auch Haarbalsam zur Verfügung gestellt und ihren Wunsch nach fettreduziertem Streichkäse nur zu gerne erfüllt, erzählte Lifschitz.

Dass sich ihr Mann immer noch in den Händen der Terroristen befindet und sie alles tun würde, um seine Sicherheit nicht zu gefährden, macht Lifschitz’ Aussagen verständlich, wenn nicht weniger problematisch. Es war aber auch niemand da, um die traumatisierte Frau im vorgerückten Alter zu coachen.

Antworten nach dem Krieg

Als Netanjahu dann am Samstagabend von Journalisten gefragt wurde, ob er denn daran denke, selbst für das Desaster vom 7. Oktober Verantwortung zu übernehmen, blickte der Premier, der zuvor frei gesprochen hatte, in seine Notizen und las davon ab. "Nach dem Krieg werden alle ihre Antworten auf schwierige Fragen geben müssen", sagte er. Jetzt gehe es darum, zu kämpfen.

Vier Stunden später, Mitternacht war längst vergangen, überkam Netanjahu dann doch noch die Lust, auf die Vorwürfe zu antworten: Der Mossad und der Militärgeheimdienst seien schuld, twitterte Netanjahu. Als das am Morgen danach für einige Empörung sorgte, löschte er den Tweet und erklärte sein Bedauern. Darauf, dass er als Chef der Regierung Verantwortung übernimmt, müssen die Israelis weiter warten. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 30.10.2023)