Die Weihnachtsausgabe des britischen Wochenmagazins Economist ist für viele ein Muss, enthält sie doch traditionell ganz besondere journalistische Perlen. Vor mittlerweile knapp sieben Jahren erschien in der damaligen Ausgabe ein Text, der einmal mehr Wien um 1900 gewidmet war, aber nicht die oft strapazierten Klimt-Schiele-Mahler-Klischees reproduzierte: Unter dem starken Titel City of the Century – How Vienna produced ideas that shaped the West bot der Text nicht nur einen gelungenen Überblick über die kreativen Milieus der Stadt vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum "Anschluss" 1938.

Der Artikel bemühte sich redlich, die fast schon provokante Behauptung auch tatsächlich einzulösen. Anhand einiger bekannter und weniger bekannter Beispiele zeichnete der ungenannte Verfasser des Texts – wie im Economist üblich erschien der Essay ohne Angabe des Autorennamens – die Karriere von Konzepten wie der Markt- und Sozialforschung, der Psychoanalyse aber auch von Ideen aus der Architektur nach, die in Wien zwischen 1900 und 1938 ihren Ursprung hatten.

Sieben Jahre Arbeit

Der Platz zur Beweisführung war damals allerdings etwas knapp. Sieben Jahre später ist dieses Defizit behoben. Diese Zeit hat Economist-Redakteur Richard Cockett dafür genützt, um ein ganzes Buch darüber zu schreiben, wie Wiener Innovationen die westliche Welt veränderten. Einige Monate davon verbrachte der promovierte Historiker zu Recherchezwecken als Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton, wo mit dem Logiker Kurt Gödel im Jahr 1940 der vielleicht allergrößte Denker aus dem Wien der Zwischenkriegszeit gelandet war.

Cockett Vienna
Richard Cockett, "Vienna. How the City of Ideas Created the Modern World". € 32,– / 445 Seiten. New Haven und London: Yale University Press 2023
Yale University Press

Der Schöpfer des Unvollständigkeitssatzes kommt in Cocketts neuem Buch unter dem Titel Vienna zwar mehrfach vor. Das Hauptaugenmerk des Werks (neuer Untertitel: How the City of Ideas Created the Modern World) liegt aber auf jenen Innovationen, die aus den angewandten Wissenschaften kommen und denen der Journalist immer wieder begegnet war. In seinen eigenen Worten: "In jedem Bereich, über den ich las und schrieb, von der Wirtschaft bis zur Werbung, von der Philosophie bis zu Einkaufszentren, von der Spionage bis zur modernen Keramik, steckte meist jemand aus Wien dahinter."

Gegenentwurf zu Schorskes Klassiker

Eine der großen Fragen zur Kreativitätsexplosion im Wien um und nach 1900 ist die nach ihren soziologischen Erklärungen. Diesem Rätsel ging schon der US-Historiker Carl E. Schorske (ebenfalls Princeton) in seinem wegweisenden Klassiker Fin-de-siècle Vienna (1979) nach, der freilich vor allem Kunst und Kultur gewidmet war und seitdem das touristische Wien-Bild nachhaltig geprägt hat.

Anders als Schorske sieht Cockett weniger die erste Niederlage des Liberalismus unter Karl Lueger als Auslöser für diese einzigartige intellektuelle Blütezeit, die mit der Geburt des Populismus (natürlich: in Wien) zusammenfällt. Der Brite streicht stattdessen die Bedeutung der Bildung vor allem für das assimilierte jüdische Bürgertum hervor, aus dem in der Zwischenkriegszeit besonders viele Innovationen kommen sollten.

Anwendung und Fortschritt

Nach diesem Einleitungsteil zur Zeit um 1900 nimmt Cockett die Lesenden mit auf eine Tour d’Horizon durch das intellektuelle Wien der Zwischenkriegszeit, das er durch zwei Aspekte geprägt sieht: die Anwendungsorientierung der Forschung und den Glauben an den Fortschritt. Beides galt seiner Darstellung nach auch für die bestimmende Philosophie der fortschrittlichen Kräfte im Roten Wien: den logischen Positivismus und dessen wissenschaftliche Weltauffassung.

Egal ob Markt-, Sozial- oder Verhaltensforschung: Im Umfeld des Psychologenpaars Charlotte und Karl Bühler entstanden besonders viele Konzepte, die bis heute wirkmächtig sind.
Wagner, Stanislaus / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

Anwendungsorientiert waren aber auch viele andere Neuerungen – von Freuds Psychoanalyse bis zu Wilhelm Reichs Orgasmusforschung, von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie bis zum Psychologieinstitut von Charlotte und Karl Bühler, in dessen Umfeld unter anderem die Grundsteine für die moderne Sozialforschung (Paul Lazarsfeld) oder die Verhaltensforschung (Konrad Lorenz) gelegt wurden.

Aber auch Wiens wichtige Beiträge zum modernen Fußball (das Wunderteam und Matthias Sindelar) oder die Hormonforschung (Eugen Steinach) an der Biologischen Versuchsanstalt – um nur zwei exotischere Beispiele zu nennen – werden von Cockett mehr als nur erwähnt. Etwas zu kurz kommen hingegen die einflussreichen Widersacher des Fortschritts, also reaktionäre Denker wie der Ökonom und Soziologe Othmar Spann, der ebenfalls über Österreich hinaus einflussreich wurde. Und auch einige Wiener Pioniere in der Physik oder Chemie (wie der Kunststoffinnovator Hermann Mark), die Weltkarriere machten, hätten eine Erwähnung verdient.

Wiener Wunderwuzzis im Exil

Ein anderer kleiner Mangel des Werks ist zugleich seine Stärke: Cocketts verwendete Literatur ist fast ausschließlich englischsprachig. Das mag bei der einen oder anderen Passage im Detail für ein paar Unschärfen sorgen. Zugleich weiten sich dadurch aber die Perspektiven auf die Kultur- und Geisteswelt Wiens, was vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs voll zum Tragen kommt, der eigentlichen innovativen Leistung Cocketts. Hier zeichnet der Autor nämlich die internationale Verbreitung und Weiterentwicklung der Innovationen aus Wien nach.

Das meiste davon fand in den USA und Großbritannien statt, wohin viele der Wiener Intellektuellen rund um den "Anschluss" 1938 flüchteten. Egal ob das moderne Einkaufszentrum oder die Fußgängerzone (Victor Gruen) oder die Markt- und Motivforschung (die Bühler-Schülerin Herta Herzog und ihr Kollege Ernest Dichter), die Spieltheorie (Oskar Morgenstern) oder der Kritische Rationalismus (Karl Popper), die moderne Managementlehre (Peter Drucker), die Bildstatistik (Otto Neurath) oder die Einbauküche (Margarete Schütte-Lihotzky): Angesichts der Fülle der Ideen mit Wurzeln aus Wien, von denen Cockett auf rund 400 Seiten kenntnisreich und kurzweilig erzählt, verdichtet sich der Eindruck, dass unsere westliche, konsumkapitalistische Welt ohne die vielen Wiener Wunderwuzzis (inklusive vieler famoser Frauen wie Marie Jahoda oder Hedy Lamarr) vermutlich anders aussehen würde.

44 Jahre nach Carl E. Schorskes Standardwerk liegt mit Cocketts Vienna eine alternative Version der kreativen Blütezeit Wiens vor – ein Buch, das die perfekte Blaupause dafür wäre, das touristische Selbst- und Fremdbild der Stadt sanft zu erneuern und ihre immer noch unterschätzte wissenschaftliche Tradition stärker in den Fokus zu rücken. (Klaus Taschwer, 31.10.2023)