Pro-Palästina-Protest am vergangenen Samstag in London.
AFP/HENRY NICHOLLS

Am 6. Juli 1938 fand im französischen Badeort Évian eine Konferenz über jüdische Flüchtlinge aus Nazideutschland mit Vertretern aus 32 Staaten statt. Die Regierungsvertreter bekundeten Mitgefühl, bevor sie "den jüdischen Flüchtlingen die Tür sofort vor der Nase zuschlugen", schrieb sarkastisch ein Newsweek-Korrespondent. Nach dem Debakel von Évian folgte zwischen 1939 und 1945 die Shoah, die Ermordung von fast sechs Millionen Juden; anderthalb Millionen waren jünger als 14 Jahre.

In seinem grundlegenden Werk über Die Jahre der Vernichtung (2006) stellte Saul Friedländer eine Tatsache "von zentraler Bedeutung" fest: "Nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe, keine Religionsgemeinschaft, keine Forschungsinstitution oder Berufsvereinigung in Deutschland und in ganz Europa erklärte ihre Solidarität mit den Juden." Die unzerstörbare Erinnerung an die Toten bildet den Hintergrund zum einzigartigen Band zwischen Israel und dem Weltjudentum seit der Gründung des jüdischen Staates am 14. Mai 1948 und auch nach den Kriegen mit den arabischen Staaten zwischen 1948, 1967 und 1973.

Isolierung Israels in der Weltöffentlichkeit

In dieser Kolumne wurde wiederholt auf die katastrophalen Folgen der Politik des wegen Korruption angeklagten Ministerpräsidenten Israels, Benjamin Netanjahu, und der von ihm in Schlüsselpositionen eingesetzten rechtsextremen Rassisten hingewiesen. Je mehr Zeit seit dem bestialischen Angriff der Hamas-Terroristen und dem mit erschreckend hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung verbundenen Gegenschlag der israelischen Armee vergeht, umso eindeutiger wird die Isolierung Israels in der Weltöffentlichkeit.

Der Aufruf der Uno-Vollversammlung zur sofortigen Waffenruhe im Gazastreifen ohne Verurteilung der Terrorattacke der Hamas und deren Geiselnahmen wurde mit 120 Stimmen und 45 Stimmenthaltungen angenommen. Nur die USA, Österreich, Tschechien, Ungarn, Kroatien und acht andere Staaten stimmten mit Israel gegen die Resolution. Die zynische Kalkulation der Hamas geht also völlig auf. Aus Opfern werden Täter und aus Tätern Opfer.

Auf die anfängliche, aber keineswegs einhellige internationale Verurteilung der terroristischen Verbrecher folgt ein stets größer werdendes Aber, bis der Hinweis auf die Hamas gänzlich verschwindet und die ausschließliche Schuld Israels und der Juden übrig bleibt.

Neue weltweite Welle des Antisemitismus

Die von unbeherrschbarem Hass mitgerissenen Mobs in Dagestan, die beispiellosen Massendemonstrationen von Paris bis London, die zügellose Hetze des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan spiegeln das immer rasanter werdende Tempo der neuen weltweiten Welle des offenen Antisemitismus. Die zunehmende Gewalt gegen Juden im Deutschland "erinnere an schlimmste Zeiten", warnt Thomas Haldenwang, der Präsident des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz. Nicht nur in Deutschland haben Juden Angst.

Die Hasskampagnen in den sozialen Medien, die TV-Berichte aus dem zerbombten Gazastreifen und über die fortgesetzte israelische Offensive ohne realistische politische Optionen werden das Verhältnis zwischen den jüdischen Minderheiten und den Mehrheitsgesellschaften verschlechtern. Der 7. Oktober ist eine Zäsur auch für das Weltjudentum. (Paul Lendvai, 30.10.2023)