Yassir Arafat und Bruno Kreisky
Yassir Arafat 1986 bei Bruno Kreisky, also nach Ende von dessen Kanzlerschaft. Auch in den 1990ern kam Arafat nach Wien.
IMAGO/Viennareport

"Ich vermisse Kreisky in diesen Tagen", schreibt ein Poster im STANDARD-Forum unter einen Artikel über den Solidaritätsbesuch von Bundeskanzler Karl Nehammer in Israel. Ketzerisch könnte man anmerken, dass man einen Politiker von der Statur Bruno Kreiskys heute fast immer und überall vermisst – aber vielleicht etwas weniger anlässlich eines im Symbolbereich angesiedelten Kanzlerauftritts in Israel nach dem "schwersten Verbrechen am jüdischen Volk nach dem Holocaust", wie Nehammer den Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober völlig zu Recht nannte. Wie wäre Kreisky mit den heutigen Herausforderungen umgegangen? Hätte er zu jenen gehört, die auch in diesem Moment der blanken Katastrophe für den Staat Israel auf "Kontext", die Lebensumstände der Palästinenser, bestanden, wie der dafür scharf kritisierte Uno-Generalsekretär António Guterres?

Neue Dimensionen

Eine kleine Zeitrechnung: Der männliche Teil der österreichischen Bevölkerung, der 2024 mit 65 in die Regelpension eintritt, ist in jenem Jahr geboren, in dem Bruno Kreisky österreichischer Außenminister wurde, 1959. Oft wird angesichts der Kanzlerschaft Kreiskys (1970–1983) vergessen, dass er bereits zu Beginn der 1960er-Jahre die Außenpolitik der Zweiten Republik gestaltete.

Es war die Zeit, in der der Ost-West-Konflikt mit der Kubakrise eine neue Dimension erreichte. Das ist wiederum Kontext, ohne den sich Kreiskys Nahostpolitik nur schwer erklären ließe. Im Nahostkonflikt sah er einen Angelpunkt des Kalten Krieges: Jede erweiterte Konfrontation dort würde die Sicherheit in Europa – und damit die des besonders verletzlichen Österreich – gefährden und europäische Entspannungsbemühungen zunichtemachen. Nicht umsonst drängte er als Bundeskanzler 1971 darauf, das Thema Israel und die Palästinenser auf die Tagesordnung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zu setzen.

Israelische Außenministerin Golda Meir in Wien
Bruno Kreisky mit Golda Meir 1973 nach dem Terrorüberfall in Marchegg.
Votava / brandstaetter images /

Freundliche Anrufung

Bruno Kreisky schwebt seitdem wie ein Gespenst über der österreichischen Nahostpolitik, freundlich angerufen auch von späteren politischen Gegnern, die arabische Gastgeber und Gäste freundlich stimmen wollen. Dementsprechend wurden und werden seine Positionen von vielen als "propalästinensisch", im Sinne eines mangelnden Verständnisses für Israel, wenn nicht gar als israelfeindlich eingestuft.

Zwar blieb von der konkreten Politik Kreiskys nach seinem politischen Abgang 1983 erst einmal fast nichts übrig. Zu sehr war sie von seiner Person getragen, zu individualisiert, zu wenig institutionalisiert. Zu stark hat sich die politische Gemengelage in Europa und im Nahen Osten seitdem verändert. Aber will man einen klaren Schnitt in Österreichs Nahostpolitik und den Beginn der Strömung datieren, die Nehammer heute klar repräsentiert, dann landet man Jahrzehnte später: beim ÖVP-FPÖ-Kabinett von Sebastian Kurz im Jahr 2017.

Oder korrekter: Nicht die Regierung, sondern das Bundeskanzleramt zog diese Wende damals durch. Im Außenministerium saß ja auf einem FPÖ-Ticket noch Karin Kneissl, mit der Israel den Kontakt verweigerte, wie mit der gesamten FPÖ. Was wiederum Kurz’ Positionierung, die zur Israel-freundlichsten in der Zweiten Republik werden sollte, weiter befeuerte: Von Anfang an war das Anliegen des jungen Bundeskanzlers evident, die Regierungsbeteiligung der FPÖ mit ihren ewigen antisemitischen Ausrutschern in den Augen Israels persönlich zu kompensieren. Der Stimmungswandel der österreichischen öffentlichen Meinung, der schon Jahre früher eingesetzt hatte, gegenüber der islamisch geprägten Welt, "dem Islam" überhaupt, mit dem auch "die Palästinenser" immer stärker identifiziert wurden, machte das umso leichter.

Vranitzky in Israel
Franz Vranitzky bekannte sich 1993 in Israel zu Österreichs Nazi-Geschichte.
APA-Archiv / picturedesk.com

Heute schwer verständlich

Aber worin bestand Kreiskys Politik überhaupt, was hat er getan – beziehungsweise was hat er nicht getan, was ist heute anders? Absolut frappierend erscheint aus gegenwärtiger Sicht, wie wenig Gewicht die österreichische nationalsozialistische Vergangenheit in den frühen österreichisch-israelischen Beziehungen hatte. Zumindest in den offiziellen: Denn die Juden und Jüdinnen in Israel, die dem durch Österreicher prominent getragenen Naziterror entkommen waren, wussten es freilich besser, als es das österreichische Narrativ vom "ersten Opfer Hitlers" glauben machen wollte.

Bereits 1949 hatte Österreich den 1948 ausgerufenen Staat Israel anerkannt; neun Jahre früher als mit Deutschland, schon 1956, wurden vollwertige diplomatische Beziehungen aufgenommen. Der erste österreichische Außenminister, der nach Israel reiste, war jedoch erst 1972 Rudolf Kirchschläger. Das war neun Jahre nach dem Freispruch des "Schlächters von Wilna", Franz Murer, dessen Prozess in eine Verhöhnung der Opfer ausgeartet war.

Wahlplakat 1986
Die Waldheim-Affäre 1986 und der Trotz der Österreicher.

Tabubruch

Auch Kreiskys erster nahostpolitischer Tabubruch fiel in diese Zeit. Im März 1964 fuhr er, begleitet von ÖVP-Staatssekretär Ludwig Steiner, nach Kairo, um Israels Erzfeind Präsident Nasser zu treffen. Zwei Monate vorher hatte die Arabische Liga beschlossen, mit einer Jordan-Sperre Israel das Wasser für den Negev abzuschneiden, Kreisky vermittelte. Aber Israel war empört: Golda Meir, damals ebenfalls Außenministerin, zeigte sich erbittert darüber, dass "als erster westlicher Politiker ausgerechnet ein österreichischer Außenminister jüdischer Herkunft nach Ägypten reisen" musste.

Dass der großbürgerliche Jude Kreisky kein Zionist war und sich auf eine heute schwer vorstellbare abfällige Art und Weise über das "jüdische Volk" äußerte, ist bekannt. Seine Verleumdung von Simon Wiesenthal im Nazi-Fall Friedrich Peter hatte ein juristisches Nachspiel.

Sebastian Kurz und Benjamin Netanjahu
Sebastian Kurz 2018 bei Benjamin Netanjahu in Israel.
imago/UPI Photo

Arabische Absatzmärkte

Kreisky hatte auch, um neue Absatzmärkte für die verstaatlichte Industrie zu erschließen, kein Problem mit dem Verkauf österreichischer Waffen an die Araber. Er selbst nannte jedoch immer auch die Sicherheit Israels als Beweggrund für seine Politik, die in Richtung Zweistaatenlösung zielte, als es das Wort noch nicht gab.

Zu seiner Identität als Sozialist gehörte weiters die Überzeugung, dass die westlichen Beziehungen zu den entkolonialisierten Staaten wichtig seien: Vermehrt stützte er sich dabei auf die Sozialistische Internationale (SI), deren drei "Fact Finding Missions" in den Nahen Osten und Nordafrika (1974–1976) er leitete. 1978 wurden in Wien die Ergebnisse vorgestellt: Die Einbeziehung der PLO (Palestinian Liberation Organisation) als Vertreter der Palästinenser sei für die Lösung des Nahostkonflikts unverzichtbar. Israel sollte mit "Terroristen" reden – und die sollten sich vom bewaffneten Kampf verabschieden.

Karl Nehammer
Karl Nehammer auf Solidaritätsbesuch nach dem Hamas-Terror.
BUNDESKANZLERAMT/DRAGAN TATIC

Zerrüttete Beziehung

PLO-Führer Yassir Arafat hatte Kreisky bereits 1974 in Kairo getroffen, der in demselben Jahr auch vor der Uno-Generalversammlung auftreten konnte. Kreiskys Beziehungen zu ihm waren nicht einfach, zu einem späteren Zeitpunkt nach eigenen Aussagen "zerrüttet". 1977 konnte die PLO ein Büro bei den Internationalen Organisationen in Wien eröffnen, 1980 wurde daraus eine bilaterale PLO-Vertretung.

Den intensivsten Kontakt pflegte Kreisky zu Nassers Nachfolger Präsident Sadat, der 1979 mit Israel Frieden schloss und 1981 dafür ermordet wurde. Und am umstrittensten war seine Einladung von Libyens "Oberstem" Gaddafi 1982 nach Wien.

Vom palästinensischen Terror blieb Österreich dennoch nicht verschont, falls das Kreiskys Hoffnung gewesen war: von dem Überfall auf den Bahnhof Marchegg und der ihm von Golda Meir – da war sie schon Ministerpräsidentin – schwer verübelten Schließung des jüdischen Übergangslagers Schönau 1973 über den Opec-Überfall 1975, die Attentate auf SPÖ-Stadtrat Heinz Nittel und die Synagoge in der Seitenstettengasse 1981 bis hin zum Anschlag in Schwechat 1985, schon nach Kreisky. Immer hing der Hautgout in der Luft, dass sich Österreich aus Opportunismus mit den Tätern arrangierte.

Vergangenheitslüge

Die Vergangenheitslüge flog den Österreichern und Österreicherinnen aber erst 1986, mit der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten, voll um die Ohren. Heute ist es schwer vorstellbar, dass das Eingeständnis der österreichischen Mitverantwortung für die Naziverbrechen durch Bundeskanzler Franz Vranitzky im österreichischen Nationalrat erst 1991 – 1993 wiederholte er es in Israel – erfolgte.

Eine Zeitenwende – aber noch ein weiter Weg zur jetzigen Nahostpolitik Österreichs: Durch den EU-Beitritt und die Balkankriege verschoben sich die außenpolitischen Prioritäten. Der nach dem Golfkrieg 1991 einsetzende israelisch-palästinensische Oslo-Friedensprozess – den Kreisky nicht mehr erlebte – erlaubte Österreich eine für viele Jahre bequeme Äquidistanz. Dabei wurden die israelisch-österreichischen Beziehungen im Jahr 2000 durch die Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Wolfgang Schüssel schwer belastet. Wie bei Waldheim stufte Israel seine diplomatische Vertretung in Wien erst einmal herab.

2012 für "Palästina"

Österreich stimmte 2011 für die Aufnahme "Palästinas" in die Unesco und 2012 als eines von 16 EU-Mitgliedern für dessen Beobachterstatus bei der Uno. Das wäre später, unter Kurz, nicht mehr passiert.

Zwei Monate war er als Bundeskanzler im Amt, als im Februar 2018 der damalige (und jetzige) israelische Premierminister Benjamin Netanjahu nach einem Treffen mit Kurz bei der Sicherheitskonferenz in München verkündete, dass Österreich sein Abstimmungsverhalten in der Uno in Bezug auf Israel positiv zu verändern plane. Kurz hielt seine Zusage ein – und ging weit darüber hinaus. Schon im Mai 2018 nahm der österreichische Botschafter als einziger eines westeuropäischen EU-Mitglieds am Empfang Netanjahus anlässlich der (Uno-Resolutionen widersprechenden) Inauguration der US-Botschaft teil, die Präsident Donald Trump von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt hatte.

Kurz stellte die Praxis ein, bei seinen Israel-Besuchen auch zur Palästinenserregierung nach Ramallah zu fahren. In der EU schlug sich Österreich auf die Seite jener (meist östlichen) EU-Staaten, die sich jeder Kritik an Israel enthielten.

Neues Programm

Schon während Österreichs EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2018 setzte Österreich in einer Konferenz nicht nur den Kampf gegen den Antisemitismus aufs Programm, sondern auch jenen gegen den Antizionismus. So steht es auch im Programm der heute von Nehammer geführten Regierung zwischen ÖVP und Grünen von Jänner 2020. Offiziell bleibt Österreich bei der Zweistaatenlösung: Man müsse das Israel nur nicht immer "mit dem Megafon" ausrichten.

Dass man Israel derzeit, nach dem Hamas-Überfall, nichts ausrichten sollte, das sieht Deutschland genauso. Die Erklärung, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei, hatte Kanzlerin Angela Merkel bereits 2008 – zehn Jahre bevor dies Kurz für Österreich tat – abgegeben. Berlins Abstimmungsverhalten in der Uno wurde jedoch davon nicht wesentlich verändert. Beim Votum über den Beobachterstaat Palästina 2012 enthielt sich Deutschland allerdings: Was für Israel, das mit einem deutschen Nein gerechnet hatte, mit Sicherheit nicht weniger schmerzhaft war als das Ja des kleinen Österreich. Das Muster könnte man auch in der aktuellen Uno-Generalversammlung am Freitag in New York wiedererkennen, bei der in einer Resolution zu einer humanitären Feuerpause aufgerufen wurde - ohne die Hamas zu erwähnen. Österreich stimmte an der Seite Israels und der USA sowie der EU-Staaten Ungarn, Tschechien und Kroatien dagegen, während sich Deutschland wie die meisten anderen EU-Mitglieder enthielt. (Gudrun Harrer, 28.10.2023)