Palästinenser bei Demo
Islamistischer Terror hat die jüngste Eskalation im Nahen Osten ausgelöst, doch die Vorgeschichte und die Reaktion Israels treiben Palästinenser auch hierzulande zu Demos: "Warum sprechen die Politiker immer nur von der Hamas und dem Holocaust?"
Tabea Kerschbaumer

Der Horror lässt Shadi Abu Daher nicht los. Rund um die Uhr spucken die Chatkanäle neue Bilder und Videos aus, sie zeigen Leichen, Trümmer, Explosionen. An Schlaf sei kaum zu denken, erzählt er. Klappen die Augen vor dem Fernseher doch einmal zu, geistere der Krieg weiter durch den Kopf.

Es ist der Abend, als die Nachricht vom zerstörten Al-Ahli-Spital im Gazastreifen um die Welt geht. In einem Kellerlokal im Wiener Bezirk Landstraße hat sich ein Grüppchen der an die 700 Mitglieder zählenden Palästinensischen Gemeinde Österreichs (PGÖ) versammelt. Frisch renoviert ist das Ziegelgewölbe, das riesige Jerusalembild mit dem muslimischen Heiligtum der Al-Aksa-Moschee inmitten lehnt noch an der Wand. Aber die Blicke richten sich ohnehin auf die aufblinkenden Displays der Handys. Palästinensische Quellen schrauben die Todeszahl laufend empor.

Zwei Versionen eines Anschlags

Was wirklich geschah, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Israels Armee weist die Verantwortung zurück und spricht von fehlgeleiteten Raketen aus Gaza selbst. Im Wiener Souterrain kommt freilich kein Zweifel an der Urheberschaft auf. Ihm könne niemand erzählen, dass es den überlegenen Gegnern um gezielte militärische Operationen gehe, sagt Abu Daher: "Sie wollen Rache – und alles dem Erdboden gleichmachen."

Der vor gut 30 Jahren nach Österreich übersiedelte Arzt kennt Gaza nicht nur aus den Nachrichten. Als eines von 14 Kindern sei er selbst im Al-Ahli-Spital geboren worden, die Zahl der Verwandten vor Ort gehe in die Tausende. Sie alle kämpften in der von Strom, Wasser und Nahrungslieferungen weitgehend abgekoppelten Zone um ihr Leben, sagt Abu Daher. Zwei Cousins und einer Cousine hätten Israels Bomben bereits den Tod gebracht, "eine Nachbarsfamilie wurde ausgelöscht".

Ohnmacht auch in Österreich

Dass die westliche Welt all das nicht sehen wolle, mache die eigene Ohnmacht umso schlimmer, ist die Runde einig. Auch Menschen aus Palästina zahlten hierzulande Steuern, arbeiteten und schickten ihre Kinder in die Schule: Warum sprächen Politiker, vom Kanzler abwärts, dann immer nur von der Hamas und dem Holocaust, nie aber von den Toten, die durch Israel gestorben seien?

Schon bald nach dem mörderischen Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober starteten die Versuche, sich Gehör zu verschaffen. Regelmäßig tauchen mit Palästinensertuch und Fahnen ausgestattete Demonstranten auf heimischen Plätzen auf. Doch was manche dort skandieren, macht vielen Menschen die Anteilnahme schwer, die zwar grundsätzlich Verständnis für die Anliegen der Palästinenser haben, aber Judenhass verabscheuen.

Aufrufe zum heiligen Krieg?

Von der anrückenden Armee Mohammeds künden Sprechchöre bei der "Mahnwache" am Wiener Stephansplatz vier Tage nach der Attacke, und von "Millionen Märtyrern", die nach Jerusalem ziehen würden. Dazu immer wieder ein altbekannter Slogan, der die Auslöschung des Staates Israel impliziert: "From the river to the sea - Palestine will be free.“

Auch Abu Daher war an dem Tag dabei, ebenso andere Vertreter der PGÖ. Vernichtungsfantasien lägen ihnen fern, beteuern sie. An Mahnungen für die "Jungs" zur Mäßigung habe es nicht gefehlt, doch mit manchen gingen eben Zorn und Schmerz durch. Überdies seien die aus dem Arabischen übersetzten Floskeln, wie jene über die Millionen an Märtyrern, nicht wortwörtlich zu verstehen. Die Demonstranten hätten ausdrücken wollen, dass sie ihre Seelen für ihr Land opfern würden, sagt Abu Daher. Mit einem Aufruf zum heiligen Krieg habe all das nichts zu tun.

Mittlerweile seien die Demos auch besser geworden, fügt er an – und tatsächlich: Beim bisher größten Aufmarsch, der "Solidaritätsbekundung für die Zivilbevölkerung in Gaza" am vergangenen Samstag, herrscht ein moderarterer Grundton vor. Die Veranstalter von der PGÖ sind sichtlich bemüht, imageschädigende Exzesse zu unterbinden.

Fehlende Distanz zu Gotteskriegern

Ganz gelingt das nicht. Auch Anklagen gegen den "Kindermörder Israel" schallen über den Columbusplatz im Bezirk Favoriten. Doch Rufe nach der Freiheit Palästinas dominieren – diesmal ohne brisante geografische Spezifizierung. Als ein Rudel junger Männer auf Arabisch das lautstarke Bekenntnis ablegt, "mit unserer Seele und unserem Blut" Al-Aksa verteidigen zu wollen, setzt es tadelnde Worte und Gesten. Wer sich nicht an die Ordnung halte, so das offizielle Gebot, solle gehen.

Jedes zivile Opfer, egal auf welcher Seite, sei zu beklagen, ist von Wortführern auf der Bühne zu hören – mehr aber auch nicht. "Palästina-Solidarität heißt nicht Hamas-Solidarität", hat ein Demonstrant auf einen Pappkarton gemalt. Doch abgesehen davon sind die radikalislamischen Regenten in Gaza keine Adressaten der Proteste.

Was hemmt Palästinenser in Österreich, nicht nur die israelische Besatzung im Westjordanland, die Blockade und Bombardierung des Gazastreifens anzuprangern, sondern auch das Unwesen der Hamas? Warum distanzieren sie sich nicht unmissverständlich von selbsternannten Gotteskriegern, die gezielte Jagd auf Zivilisten machen? "Weil Israel die ganze Zeit das Gleiche tut", sagt eine junge Frau mit knallrotem Kopftuch, die sich als Tochter eines palästinensischen Flüchtlings vorstellt. Die Österreicher seien in Ahnungslosigkeit gefangen, weil die Medien den Fokus allein auf die Hamas richteten, klagt sie: "Es ist einfach nur unfair."

Shadi Abu Daher
Der aus Gaza stammende Arzt Shadi Abu Daher hat die Hoffnung auf Frieden aufgegeben – aber nicht wegen der Hamas.
Tabea Kerschbaumer

Die Logik der Radikalisierung

Auch ihm fehle die Balance, stimmt ein albanischstämmiger Familienvater ein, der sich als Muslim zum Mitdemonstrieren verpflichtet fühlt. Er wolle die Aktionen der Hamas keineswegs rechtfertigen, schickt er voraus, doch man könne die Geschichte nicht erst mit dem 7. Oktober zu erzählen beginnen. Was sei von Menschen zu erwarten, die in Gaza schon vor der aktuellen Krise unter einer weitreichenden israelischen Blockade litten? "Natürlich werden die sich radikalisieren."

Der mit Notizblock versehene STANDARD-Reporter fällt auf, immer mehr Kundgebungsteilnehmer mischen sich ins Gespräch. Kein Vorwurf an die Hamas bleibt da unaufgerechnet. Torpedieren nicht gerade die islamistischen Terroristen mit ihren Anschlägen seit Jahrzehnten jenen Frieden, den angeblich alle wollen? Es sei ein jüdischer Extremist gewesen, der Yitzhak Rabin, Mitarchitekt des Osloer Friedensprozesses, ermordet habe, kommt postwendend retour. Macht das deklarierte Ziel der Vernichtung des jüdischen Nationalstaates nicht jede Verständigung unmöglich? Israels Verteidigungsminister Joav Gallant sei keinen Deut besser, als er sagte: "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und entsprechend handeln wir."

Wer hier auf Berichte klassischer Nachrichtenkanäle und Zeitungen verweist, steht auf verlorenem Posten. Als unumstößliche Wahrheit gilt allein, was die vertrauten Bubbles in den sozialen Medien oder allenfalls der arabische Sender Al-Jazeera zu bieten haben. Schon machen Verschwörungstheorien die Runde. Die Situation wirke gerade so, als habe Israel nur auf diese Gelegenheit gewartet: Es wäre ja nicht das erste Mal, dass der Geheimdienst Mossad mit einer verdeckten Operation eine Konfrontation anzettle.

Zweifel am Massaker

Zweifel keimen auch im Landstraßer Domizil der Palästinensischen Gemeinde Österreichs. Hat das hundertfache Massaker an den Besucherinnen und Besuchern einer Rave-Party nahe der Gaza-Grenze wirklich so stattgefunden, wie im Westen berichtet wird? Er wisse es nicht, sagt der Arzt Abu Daher.

Die PGÖ-Vertreter beeilen sich, nur ja keine verfänglichen Missverständnisse aufkommen zu lassen. Niemand hier sei für die Hamas, jeder verurteile die Tötung von Zivilisten, betonen sie. Aber man müsse eben auch den Kontext sehen, ergänzt Abu Daher. Es sei nun einmal eine Tatsache, dass die Hamas im Jahr 2006 von den Palästinensern demokratisch als stärkste Kraft gewählt wurde – als Folge der Jahrzehnte währenden israelischen Besatzung. Soll sich die Situation ändern, müsse man genau dieses Problem lösen: "Doch Israel spielt nicht mit."

Dass die Hamas in ihrem Auslöschungsfanatismus selbst immer nur die Eskalation vorantreiben wolle, glaube er nicht. Würde Israel ohne Wenn und Aber die im Sechstagekrieg von 1967 besetzten Gebiete freigeben, "steigen alle Palästinenser darauf ein".

Palästinenser bei Demo
Einst auch ein Accessoire der Jugendkultur, wird die schwarz-weiße Kufiya vulgo Palästinensertuch nun wieder häufiger aus politischen Gründen getragen.
Tabea Kerschbaumer

Immer nur Fragen nach der Hamas

Den Fürsprechern der palästinensischstämmigen Bevölkerung im Land, die in der jüngeren Vergangenheit durch Flüchtlinge aus Syrien stark angewachsen sein dürfte, geht die Fixierung der Journalisten auf die H-Frage gehörig auf den Geist. Viele Jahre habe sich niemand dafür interessiert, was der in Wien stationierte Botschafter der Autonomiebehörde über das Leid im Mutterland zu berichten habe. Plötzlich werde er zu Interviews "zitiert", um stets mit demselben Vorwurf bombardiert zu werden: "Warum distanzieren Sie sich nicht deutlich von der Hamas?"

Nicht immer sei die Haltung in Österreich so einseitig gewesen. Hohes Ansehen genießt in der PGÖ der einstige sozialdemokratische Bundeskanzler Bruno Kreisky, der sich in international bahnbrechenden Initiativen für die friedliche Errichtung eines palästinensischen Staates einsetzte. Noch bis in die Zeit des mit FPÖ-Unterstützung regierenden ÖVP-Kanzlers Wolfgang Schüssel hinein habe die Außenpolitik ein gewisses Gleichgewicht gewahrt. In der Folge sei diese Position verraten worden. Mittlerweile habe er nicht nur die SPÖ-Mitgliedschaft aufgegeben, erzählt Abu Daher: "Ich habe immer an Frieden geglaubt. Jetzt tue ich das nicht mehr."

Der Mediziner ist nicht der Einzige, der Dramatisches befürchtet. Mitte der Woche gab der heimische Staatsschutz eine erhöhte Terrorwarnung aus. Die Krise im Nahen Osten könnte gewaltbereite Protagonisten der islamistischen Szene in Österreich animieren, aufs Ganze zu gehen.

Gefährliche Stimmungsmache

Auch die Palästinenservertreter reagieren. Gemeinsam mit der Arabisch-Österreichischen Union verfasste die PGÖ einen Appell zur "verantwortungsvollen Ausübung des Demonstrationsrechts". Niemand dürfe die Gaza-Krise zu einem Streit zwischen Juden und Muslimen stilisieren, der "das gute Zusammenleben" in Europa zerstöre, ist da zu lesen. Angriffe oder Provokationen gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger seien ebenso zu verurteilen wie die Instrumentalisierung religiöser Gefühle und jede Art von Gewaltverherrlichung.

Bedrohlich sei die Situation, sagt Ibrahim Abu Daher. Der 19-Jährige, der als Medizinstudent in die Fußstapfen seines Vaters tritt, meint damit aber nicht den aus den sozialen Medien triefenden Antisemitismus, sondern Hass gegen Muslime, Araber und Palästinenser. Der mutmaßlich als Vergeltung für die Hamas-Gräueltaten gemeinte Mord an dem sechsjährigen Sohn einer in Chicago wohnenden Familie aus dem Westjordanland sei ihm Warnung genug: "Bei uns wird nicht weniger gegen Palästina Stimmung gemacht." (Gerald John, 21.10.2023)