Wuzhen Theatre Festival
"Escaping from the Temple" von Zhao Liang ist ein Musterbeispiel für das Verbinden alter chinesischer Bühnentradition mit modernem Erzählspirit: Eine Nonne trifft auf einen Mönch ...
Wuzhen Theater Festival China

Am fünften Tag des Wuzhen Theatre Festival wird ein Bankett gegeben. Formschön gekleidete Kellner mit dicken Handschuhen tragen siedende Hot Pots auf. Warmer Reiswein wird in Gläser gefüllt, bunte Lampions erhellen die gedeckte Tischzeile, die sich durch die Hauptstraße von Wuzhen schlängelt. Die südlich von Schanghai am berühmten Bejing-Hangzhou-Kanal gelegene 1300 Jahre alte Wasserstadt wird alljährlich im Herbst zum Hotspot für Theaterbegeisterte. Über siebzig Gastspiele aus zwanzig Ländern sind zu sehen.

Zehnjähriges Jubiläum

Heuer feiert das Festival, das sich ohne staatliche Zuwendung durch die Wuzhen-Immobilienfirma finanziert, sein zehnjähriges Jubiläum. Erstmals sind zwei österreichische Bühnen vertreten, das Burgtheater mit Zauberberg und das Volkstheater mit Endspiel. Das Wienerisch in den engen Gassen der pittoresken, seiner alten Häuser wegen als Freilichtmuseum fungierenden Stadt ist unüberhörbar. Die Gassen sind beflaggt mit Theaterpionieren aus aller Welt, von Pina Bausch bis Lord Byron, von Eugene O’Neill bis Aphra Behn, aber auch Arthur Schnitzler oder Max Reinhardt. Noch ein Österreich-Bezug ist zu vermerken: Meng Jinghui, der künstlerische Leiter des Festivals, hat Stefan Zweigs Novelle 24 Stunden aus dem Leben einer Frau inszeniert.

Die Novelle verhandelt den streitbaren Entschluss einer Ehefrau und Mutter, bei einem Urlaubsaufenthalt an der Riviera Mann und Töchter für eine leidenschaftliche Liebe zu verlassen. Als eindringliches formalisiertes Erzähltheater auf schiefer Rampe hat das ganz auf die elegante und einfühlsame Starschauspielerin Huang Xiangli zugeschnittene Solo Premiere in einem dicht besetzten Saal. Viele Handys leuchten währenddessen auf, das ist in China durchaus üblich – am Ende aber sind viele Gesichter ergriffen.

Durchschnittsalter 30

Am ehesten könne man das Festival mit jenem von Avignon vergleichen, sagt der Regisseur und Dramatiker Meng Jinghui im Gespräch mit dem STANDARD. Denn die ganze Stadt wird auch hier mit Theater regelrecht überzogen. In diesen zehn Tagen ist Wuzhen das chinesische Mekka aller theaterbegeisterten jungen Leute. Das Durchschnittsalter der Besucherinnen und Besucher liegt bei um die dreißig.

Davon können europäische Häuser nur träumen. Warum ist das Publikum so jung? "Weil sich in China das zeitgenössische Theater erst noch im Aufbau befindet und die von ihm verhandelten aktuellen Themen die Jungen besonders ansprechen", sagt Meng. Der 59-Jährige ist in China ein Star, weil er genau dieses zeitgenössische Theater in den letzten 30 Jahren vorangetrieben hat. Von Meyerhold, Grotowski, Brecht und Foreman inspiriert, aber auch "von Fellini, Fassbinder und Godard", wie er sagt, setzte Meng ab Anfang der 1990er-Jahre auf chinesischen Bühnen eine neue Formensprache in Gang. Man spricht gar vom "Meng-Stil", der als eine Mischung aus Dekonstruktion und Satire beschrieben wird.

Wuzhen Theatre Festival
Die Straßen von Wuzhen, beflaggt u. a. mit Max Reinhardt.
Margarete Affenzeller

Das junge Publikum ist verrückt nach neuem Theater, es folgt Meng auch zu anderen Festivals in China, die er leitet, etwa das Aranya Festival im Norden des Landes oder das Bejing Fringe Festival. Deshalb meint man gar, die Beatles trapsen zu hören, wenn sich Meng Jinghui und Festivaldirektor Stan Lai unter Applaus und Blitzlichtgewitter die Banketttafel entlang zum Toast mit jedem Tisch schrauben.

Viel Potenzial

Das Festival ist Kult, und mit einem so jungen Publikum hat es viel Potenzial. Manche warten lange darauf, Tickets zu ergattern. Eine junge Frau in der Starbucks-Warteschlange ist glücklich, es nach drei Jahren endlich geschafft zu haben. In der Minute des Online-Buchungsstarts hat sie heuer zugeschlagen.

Wuzhen Zweig
Meng Jinghui inszeniert Stefan Zweigs "24 Stunden aus dem Leben einer Frau".
Wuzhen Theater Festival China

Auf die präsentierte Formenvielfalt ist das Festival stolz. Auch die Bandbreite chinesischer Arbeiten ist bemerkenswert. Sie reicht vom Mitmachtheater Play love plays (jeweils eine Person aus dem Publikum spielt einen Part in einer professionellen Szene eines Klassikers) bis zur bekannten Novelle The True Story of Ah Q von Lu Xun, die Li Jianjun mit der New Youth Group als multimediales, dokumentarisch unterfüttertes reiches Schauspiel- und Puppentheater inszeniert hat.

Applaus fürs Volkstheater

Einer der faszinierendsten und in seiner Präzision bezwingendsten Abende, das Tanzstück Escaping from the Temple von Zhao Liang, verbindet Kunqu-Oper mit einem Hauch modernen Erzählens. Eine Nonne bedauert die Einsamkeit im Tempel und trifft auf einen Mönch. Ein weicher, formstarker Tanz in prachtvollen Kostümen trägt hier das phänomenal neckische Libretto.

He Liu

Eröffnet wurde das Festival von Robert Wilsons Weltuntergangsstück Hundred Seconds to Midnight mit Jens Harzer vom Thalia Theater Hamburg, das mehrmals in Wuzhen zu Gast war. Da schien der Empfang etwas verhalten. Wobei chinesischer Applaus generell zurückgenommen wirkt – kein Wunder, werden doch alle Hände zum Handyfilmen benötigt. Dennoch wäre das Festival im Fall elegischer Zukunftsvisionen besser mit Susanne Kennedys Kunst beraten gewesen.

Österreich-Beteiligung

Über frenetischen Applaus durfte sich allerdings Kay Voges für seine inzwischen zwölf Jahre alte Endspiel-Inszenierung freuen, die weiter im Repertoire des Volkstheaters läuft. Der textschwere Zauberberg des Burgtheaters, in dem Tilman Tuppy nun Neo-Hollywoodstar Felix Kammerer ersetzt, wurde von Direktor Martin Kušej persönlich nach China begleitet. Auch Bundestheater-Holdingchef Christian Kircher war zugegen. 2023 war aber nicht das erste Jahr mit Österreich-Beteiligung in Wuzhen. 2016 wurde bereits Peter Handke zu einem Panel geladen, um über Dramatik zu sprechen. Das Wuzhen Festival hat die Fühler weit ausgestreckt. (Margarete Affenzeller aus Wuzhen, 31.10.2023)