Zinksulfat und Zucker unter Polarisationsmikroskop
Polarisationslichtmikroskopie ließ dieses Bild eines hauchdünnen kristallinen Films aus Zinksulfat und Zucker entstehen.
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Oberflächen sind das Enfant terrible der Physik. Bereits Wolfgang Pauli soll beklagt haben, dass Gott zwar das Volumen des Festkörpers erschaffen habe, aber: "Seine Oberfläche wurde vom Teufel gemacht." Während Pauli sich auf die komplizierten Interaktionen zwischen Festkörpern und Umwelt bezog, die an der Oberfläche geschehen, konnte der Physiknobelpreisträger nicht ahnen, dass in den kalten Tiefebenen der Materie völlig neue Gesetze herrschen. Das ungewöhnliche Verhalten von Atomen und Elektronen in praktisch zweidimensionalen Schichten – oder eindimensionalen Ketten – könnte ein Grundproblem bisheriger Quantencomputer lösen. Der Schlüssel zum Verständnis dieser flachen Welten liegt in der Topologie.

Was haben ein Fußball und eine Banane gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel, doch topologisch fallen sie in dieselbe Kategorie. "Topologie bedeutet, dass Dinge durch ganze Zahlen charakterisiert werden können", sagt der theoretische Physiker und Nobelpreisträger Duncan Haldane im STANDARD-Interview. Bei Fußbällen und Bananen wäre das die Anzahl der Löcher. Dementsprechend fallen Donuts nicht in die Kategorie der Bälle, haben sie doch ein Loch. Anschaulich wird diese Einteilung, wenn wir uns in eine Welt aus Ton versetzen: Ton-Fußbälle kann man zu Ton-Bananen kneten – für einen Donut muss ich aber ein Loch erzeugen.

Von Bällen, Tassen und Qubits

Topologie beschreibt Phänomene in solchen Kategorien, die sich stufenweise ändern, etwa der Übergang von "kein Loch" zu "ein Loch", wobei es auf Details innerhalb der Kategorien nicht ankommt: Ball und Banane gehören in eine Klasse, Donut und Tasse in eine andere. Teilchen in niedrigdimensionalen Systemen können sich ebenso topologisch verhalten. Wie Haldane bei einem Vortrag an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erklärt, kann diese Eigenschaft die fragilen Überlagerungszustände von Qubits stabilisieren.

Die Intuition hinter dem topologischen Ansatz: "Systeme, die sich durch eine ganze Zahl beschreiben lassen, sind natürlich sehr robust. Ohne Gewalt ändern sie sich nicht", sagt Haldane. Doch welche Systeme könnten topologisch-geschützte Qubits darstellen? Dazu müssen wir zurück zu den Tiefebenen und zum Quanten-Hall-Effekt: Darunter versteht man die Tatsache, dass sich der Widerstand einer tiefgekühlten, zweidimensionalen Leiterschicht, die zwischen zwei Halbleitern liegt, bei steigendem externem Magnetfeld nur schrittweise ändert.

Diese Sprünge sind ein erster Hinweis dafür, dass es sich um einen topologischen Zustand handelt, der zweite ist an den Rändern der dünnen Schicht zu finden, wie Haldane weiß: "In der Topologie passiert das Interessante immer am Rand." Während etwa beim Quanten-Hall-Effekt Elektronen um die äußeren Magnetfeldlinien wirbeln, kreisen sie am Rand just in die Gegenrichtung. Damit nicht genug: In der Leiterschicht verhalten sich die Elektronen kollektiv und erlauben damit die Existenz von Quasiteilchen. Unzählige Teilchen arbeiten so zusammen, dass sie sich als ein einzelnes Partikel beschreiben lassen. Beim Quanten-Hall-Effekt können diese Beinahe-Teilchen besonders exotisch ausfallen.

Die Quanten-Ebene der Leiterschicht kann Majorana-Nullmoden hervorbringen. Dabei handelt es sich um Zustände, die sich wie halbierte Teilchen verhalten. In der dreidimensionalen Welt unmöglich, können solche Quasiteilchen in topologischen Zuständen vorkommen. Verstehen lassen sie sich mit den Atomketten, für deren Beschreibung Haldane den Nobelpreis erhielt. "Menschen haben gewöhnlich zwei Hände. Doch stellen wir uns eine lange Kette von händchenhaltenden Menschen vor, haben wir an den Enden zwei einzelne, freie Hände. Es ist uns gelungen, ein Händepaar zu trennen", erklärt er, "das funktioniert auch bei Ketten aus Spin-1-Teilchen, wo an den Enden ein halber Spin entsteht – und damit eine Majorana-Nullmode."

Teilchen mit Gedächtnis

Wie die Menschenkette das freie Händepaar verbindet, sind auch die Quasipartikel miteinander verbunden, allerdings durch Verschränkung. Und damit geht eine Eigenschaft einher, die Majorana-Nullmoden von allen anderen Teilchen der dreidimensionalen Welt unterscheidet: Sie haben ein Gedächtnis. 3D-Teilchen verhalten sich, wenn man sie zweimal vertauscht, so, als ob man sie nicht berührt hätte. Bei den Majorana-Nullmoden ist das anders: Sie verändern bei Vertauschung ihren Zustand und gehören damit zu den nicht-abelschen Anyonen, die als heiliger Gral der topologischen Quantencomputer gelten.

Doch wie lässt sich mit Nullmoden rechnen? Stellen wir uns die Zustände, die Elektronen in der Leiterschicht einnehmen können, als Hütchen vor, wie sie für Zaubertricks genutzt werden. Befindet sich eine Erbse darunter, ist der Zustand mit einem Fermion besetzt, sonst nicht. Der Trick geht wie folgt: Man stelle zwei leere Hütchen auf den Tisch und spalte beide in zwei Halbhütchen – die Magie der Quanten-Ebene macht’s möglich. "Die Information, ob die Hütchen voll oder leer waren, ist nun unsichtbar. Sie steckt in der Verschränkung, die eine Spur zwischen den Halbhütchen-Paaren zieht", erklärt Haldane.

Immun durch stabile Zöpfe

Jetzt bewegt man zwei der Halbhütchen umeinander, aber Achtung: Kommen sie sich zu nahe, verbinden sie sich. Am Ende sollen vier Halbhütchen wieder da stehen, wo sie anfangs waren, und werden schließlich zu zwei Hütchen verschmolzen. Na, wo ist die Erbse? Welche Erbse, werden Sie sagen, die Hütchen waren doch leer! Doch in manchen Fällen werden Sie jetzt unter den Hütchen je eine Erbse finden. Ordnen wir dem Zustand, wo beide Hütchen leer sind, den Wert "Null" zu und nennen die Situation mit zwei vollen Hütchen "Eins", ist unser System nach der Vertauschung in einem Überlagerungszustand zwischen Null und Eins – und damit ein Qubit.

"Wenn ich ein Halbhütchen durch die Verschränkungsspur ziehe, verändere ich den Zustand des Systems. Durch die Verstauchungen kann ich also Information verarbeiten, indem ich Zustände ineinander überführe, und somit einen Quantenalgorithmus ausführe", erläutert Haldane. Fachleute sprechen vom Flechten topologischer Qubits: Betrachtet man den Weg, den die Halbhütchen zurücklegen, entstehen je nach Algorithmus komplizierte Zöpfe, wenn sie sich umeinander bewegen.

Der Vorteil: Die Quantenprozesse sind nur durch die Anzahl der Vertauschungen charakterisiert. Es sind also wieder ganze Zahlen im Spiel und damit Topologie – wie die Zöpfe genau aussehen, ist egal. Damit sollten topologische Qubits beinahe immun gegen äußere Einflüsse sein, die in bisherigen Quantencomputern Überlagerungszustände zerstören. Doch topologische Qubits umzusetzen ist schwer. Zwar simulierten Teams von IBM und Google kürzlich verschiedene nicht-abelsche Anyonen auf Quantencomputern – eine echte Reise zu den Tiefebenen der Materie und ihren Bewohnern ist das noch nicht. (Dorian Schiffer, 5.11.2023)