ERC-Präsidentin Maria Leptin
Die Biologin und Immunologin Maria Leptin steht dem Europäischen Forschungsrat als Präsidentin vor.
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Rund 17 Prozent der EU-Forschungsgelder fließen in die Grundlagenforschung. Gefördert werden exzellente Projekte vom Europäischen Forschungsrats, dem European Research Council (ERC), in einem hochkompetitiven Verfahren. Etliche Forschende konkurrieren um diese Finanzmittel. Förderabsagen sind dabei mitunter schwer nachzuvollziehen. Wie die Gelder vergeben und die geförderten Projekte ausgewählt werden, weiß Maria Leptin. Die deutsche Biologin und Immunologin leitet nicht nur Forschungsgruppen an der Universität zu Köln, sondern ist auch Präsidentin des ERC.

STANDARD: 2020 wurde der ERC in einer Studie dafür kritisiert, eher wenige Projekte zu fördern, die sehr riskant sind, also deren Erfolgsaussichten eher gering sind, aber – so sie Erfolg haben – echte Durchbrüche versprechen. Was sagen Sie als ERC-Präsidentin dazu?

Leptin: Ich finde solche Studien sehr, sehr schwierig, weil die Ansätze, "Risiko" zu definieren und zu bewerten oder gar zu messen, sehr kontrovers sind. Es ist mir selbst schon passiert, dass meine besten Projekte von der deutschen Forschungsförderung abgelehnt wurden, weil sie als zu risikobehaftet angesehen wurden. Und dann kamen meine besten Papers aus diesen Projekten. Natürlich ist das Peer-Review-System, auf dem die Auswahl der allermeisten Forschungsförderer beruht, konservativer als manche experimentellen Systeme. Ich wäre auch offen für den Vorschlag, in einem bestimmten Bereich ein Zufallsprinzip walten zu lassen. Dann hätten riskantere Projekte vielleicht größere Chancen.

STANDARD: Wäre Würfeln die gerechtere Methode?

Leptin: Einfach würfeln natürlich nicht. Es gibt Projekte, die sind eher schwach oder langweilig. Die sollten nicht mit hinein ins Würfeln. Und es gibt auch Projekte, die sind so unglaublich interessant, da sind sich alle einig, dass man die unbedingt fördern muss.

STANDARD: Können Sie sich an ein Projekt erinnern, das besonders spannend war?

Leptin: Etwa die mRNA-Technik, die für die Covid-Impfung genutzt wurde. Uğur Şahin wurde dafür vom ERC gefördert, noch vor der Pandemie. Sie war nicht für Viren, sondern für Krebs gemeint. Aber er hat die Technologie dann umpolen können. Man darf das Kind also nicht mit dem Bad ausschütten. Auch wenn einzelne Fehler gemacht werden, erfüllt das Peer-Review-System seinen Zweck. In einem mittleren Bereich aber, wo jeder weiß, dass der Unterschied zwischen 57,1 Prozent und 57,2 Prozent keiner ist, gibt es meines Erachtens keine rationale Basis, ein Projekt dem anderen vorzuziehen. Da könnte man wohl auch würfeln. Aber das ist jetzt kein Vorschlag für den ERC, das ist nicht von unserem Forschungsrat abgesegnet.

STANDARD: Würde mehr Geld das Problem lösen?

Leptin: Ja, aber doppelt so viel Geld. Wir wissen sehr genau, dass wir Projekte ablehnen, die hervorragend sind. Das tut weh. Die Auswahlgremien raufen sich da die Haare aus, weil sie zu exzellenten Projekten sagen müssen: "Sorry, Leute, wir können euch nicht fördern. Eure Forschung würde zwar zu enormen Innovationen führen, aber es gibt nicht genug Geld." Wenn sich das nicht ändert, können wir gleich aufhören, darüber zu reden, mit China und den USA zu kompetieren.

STANDARD: Sie haben beim Salzburg Summit der Industriellenvereinigung im Juli an der Session "Geopolitics of Innovation: Has Europe Lost the Battle?" teilgenommen. Hat Europa die Innovationsschlacht verloren?

Leptin: Das ist natürlich ein sehr polemischer Titel. Aber wenn es um Vergleiche geht, dann müssen wir schon sagen: Europa steht in der Forschungsförderung hinter den USA und China. Vor 20 Jahren waren wir international noch die Zweiten. Da haben wir innerhalb der European Research Area dafür plädiert, drei Prozent unseres BIP in Forschung zu investieren. Das tun wir aber immer noch nicht. China hat die Forschungsförderung indes verdoppelt und verdreifacht, und wir sind jetzt sogar hintendran: China investiert 720 Milliarden, wir 400 Milliarden. Das zeigt sich auch in den Ergebnissen, die sie erzielen, und da stehen wir nicht gut da. Nicht weil wir es nicht können, sondern weil unseren Worten keine Taten folgten.

STANDARD: Wenn Sie doppelt so viel Geld für die Grundlagenforschung wollen, erwarten sich viele auch einen höheren Innovations-Output. Sollte Grundlagenforschung nicht überhaupt Output-orientierter organisiert werden?

Leptin: Grundlagenforschung funktioniert nicht so, dass man Forschern sagt: "Entdeckt mal bitte das oder jenes." Und wenn man ihnen das sagt, dann kommt es zu spät, nämlich nachdem es ein Problem gibt, das zu lösen ist. Wir wussten vor 2020 nicht, dass wir einen Impfstoff für eine Pandemie brauchen werden, haben aber die exzellente mRNA-Technologie gefördert. Wir wissen auch nicht, was wir im Jahr 2027 oder im Jahr 2030 brauchen. Grundlagenforschung funktioniert so, dass den besten Köpfen die Freiheit gelassen wird, an der vordersten Front zu forschen. Den Erfolg kann man vielleicht nicht für jedes einzelne Projekt voraussagen. Aber in der Breite ist das schon ein erfolgreicher Ansatz und ermöglicht uns, einen Speicher an Wissen zu schaffen, auf den wir in der Zukunft zurückgreifen können. Es gibt gute Gründe, weshalb sich Firmen dort ansiedeln, wo gute Grundlagenforschung passiert, etwa in der kalifornischen Bay Area, Boston oder in England, rund um Cambridge.

STANDARD: Woran liegt diese Konzentration Ihres Erachtens?

Leptin: Die Nähe zur Grundlagenforschung ist eine Quelle von Innovation. Auch wenn Sie sich die Projekte ansehen, die vom Europäischen Innovationsrat, EIC, gefördert werden, die sogenannten EIC-Transition-Projects, sieht man den Wert der Grundlagenforschung für die Innovation sehr deutlich. Über die Hälfte der erfolgreichen Projekte wurden von ehemaligen oder derzeitigen ERC-Forschern eingereicht.

STANDARD: Sie sind noch bis 2025 im Amt. Jetzt ist quasi Halbzeit. Was möchten Sie Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin unbedingt hinterlassen?

Leptin: Ich muss ja das nächste EU-Forschungsrahmenprogramm verhandeln. Das will ich in einem Top-Zustand übergeben. Dabei geht es nicht nur um Gesundheitsforschung, Klimaforschung und Quantum-Computing. Es geht auch um die Sozialwissenschaften und die Geisteswissenschaften. Wir haben Migrationsprobleme, Probleme mit sozialer Ungleichheit, mit Armut. Der ERC finanziert natürlich auch Top-Projekte in jenen Wissenschaftsbereichen, die sich mit diesen Themen beschäftigen. Das wird gerne vergessen. Soll es aber nicht. Grundlagenforschung ist auf der ganzen Breite bedeutsam. (INTERVIEW: Norbert Regitnig-Tillian, 4.11.2023)