Es sind recht klare Worte von einer, die weiß, wovon sie spricht. Denn Irmgard Griss ist nicht nur ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes. Die beschlagene Juristin leitet auch die Kindeswohlkommission, die vom Justizministerium nach der Abschiebung der damals zwölfjährigen Tina und ihrer Familie nach Georgien eingesetzt wurde. Die Abschiebung war rechtswidrig, wie das Bundesverwaltungsgericht feststellte und der Verwaltungsgerichtshof nach Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Vorjahr bestätigte.

Irmgard Griss, Leiterin der Kindeswohlkommission, kritisiert die Entscheidung der Behörde zur Abschiebung scharf.
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Auch aktuell sorgt eine Entscheidung des BFA für Aufregung und Proteste. Und wieder geht es um die drohende Abschiebung einer gut integrierten Familie nach Georgien: Dem 16-jährigen Jaba B., seinen beiden Geschwistern und seinen Eltern droht die Abschiebung, weil Jabas Krebserkrankung inzwischen geheilt ist. Im Jahr 2018 war die Familie nach Österreich gekommen, weil die bei ihrem Sohn diagnostizierte Leukämie in Georgien nicht behandelt werden konnte. Aufgrund von Jabas tödlicher Krankheit erhielt die Familie subsidiären Schutz.

Humanitäres Bleiberecht abgewiesen

Weil der Bub heute wieder gesund ist, sieht das BFA den Grund für den Schutz der Familie aber als nicht mehr gegeben an. Bei ihren Beschwerden vor dem Bundesverwaltungsgericht (BvwG) und dem Verwaltungsgerichtshof verlor die Familie, ein Antrag auf humanitäres Aufenthaltsrecht wurde zudem abgewiesen. In einer Stellungnahme schreibt das BFA, eine Abschiebung der Familie sei in die Wege geleitet worden, weil keine „über das übliche Maß hinausgehende Integration" vorliege.

Das sorgte nicht nur für öffentliche Aufregung und eine Protestkundgebung von Jabas Schulklasse am Montag vor dem Innenministerium, bei der betont wurde, wie gut der 16-Jährige in Schule wie Freizeit integriert sei. Auch Griss kritisiert die Einschätzung des BFA im Gespräch mit dem STANDARD scharf. Das Kindeswohl sei in der Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigt worden; ebenso wenig wie die Tatsache, dass Jaba und seine gesamte Familie in Österreich hervorragend integriert sind.

"Sonst kann man Integration nicht beurteilen"

Seit der Aufregung um den Fall Tina und den daran anknüpfenden Bericht der Kindeswohlkommission würde die Integration in den meisten Fällen zwar deutlich beherzter geprüft als zuvor, sagt Griss. Im vorliegenden Fall sei das aber nicht geschehen, "warum auch immer". Wie aus dem entsprechenden Akt hervorgeht, hat das BFA die drei Kinder der Familie nämlich nicht persönlich befragt. Das persönliche Gespräch sei aber der entscheidende Hebel, um das Maß der Integration überhaupt beurteilen zu können, betont die ehemalige Höchstrichterin. Das sei allgemein anerkannte Praxis und wurde auch im Abschlussbericht der Kindeswohlkommission ausdrücklich festgehalten. "Einen wirklichen Eindruck bekommt man nur, wenn man mit den Leuten spricht", sagt Griss. "Sonst kann man die Integration eigentlich nicht bewerten."

In der Stellungnahme des BFA heißt es, man habe die "Integrationsbemühungen und die schulischen und außerschulischen Leistungen" einer "Beurteilung unterzogen". Nachdem eine persönliche Befragung ausgeblieben ist, bezieht sich das offenkundig vor allem auf die Sichtung von Dokumenten und Unterlagen. Denn im Verfahren legen die Asylwerbenden in der Regel Zeugnisse vor, um gute Schulleistungen zu belegen; oder Schreiben etwa von Schuldirektorinnen, der Klassengemeinschaft oder der Elternvertretung, um gute Leistungen und gelungene Integration zu unterstreichen. "Die Parteien müssen ihre Leistungen ja selbst beweisen", sagt Griss.

Beispiele für gelungene Integration

Im konkreten Fall hätten die Eltern auch Bestätigungen über außerschulische Vereinsmitgliedschaften der Kinder vorgelegt. Das BFA habe dazu aber argumentiert, man könne ja nicht wissen, ob die Kinder in den Vereinen auch wirklich aktiv gewesen seien, moniert Griss.

Sie betont, nicht nur Jaba selbst, sondern seine gesamte Familie seien Beispiele für besonders gute Integration. Das würde sowohl aus den Schulen der Kinder bestätigt als auch etwa vom Arbeitgeber des Vaters. Sie selbst habe ein Schreiben von diesem bekommen, in dem betont wird, wie zufrieden alle mit dessen Arbeit sind; ebenso wie die Zuschrift einer Unternehmerin, die Jabas Mutter eine fixe Jobzusage gegeben habe. "Sie hat unterstrichen, wie gut sie Deutsch spricht und wie fleißig sie ist", sagt Griss.

Schule setzte Brief auf

Jabas Schwester ist vor kurzem 18 geworden und steht im Gymnasium, das sie besucht, kurz vor der Matura. Ihr Klassenvorstand Gerhard Binder berichtet dem STANDARD ebenfalls von einer bestens integrierten Schülerin. "Sie spricht fast akzentfrei und eigentlich verblüffend gut Deutsch", sagt er. Das sei nicht selbstverständlich, wenn man erst im Alter von 13 Jahren nach Österreich gekommen ist. Dass so etwas ignoriert werde, kann der Lehrer nicht nachvollziehen. "Da gibt es viele andere in der Klasse, die sich damit wesentlich schwerer tun."

Schockiert habe ihn, als seine Schülerin ihm erzählt habe, in welcher Situation die Familie schon lange gelebt habe. "Dass nämlich jederzeit jemand an der Tür klopfen und sagen kann, wir nehmen euch jetzt mit." In der Schule habe man auch eine Petition geschrieben und einen Brief aufgesetzt, in dem die Leistungen der 18-Jährigen hervorgehoben wurden. Auch das habe aber offenbar nicht geholfen, sagt Binder. "Man hat eher das Gefühl, der Brief wird nicht einmal wirklich gelesen." (Martin Tschiderer, 31.10.2023)