Eine farbiger Holzschnitt von Newton in einem abgedunkelten Raum, in den ein Lichtstrahl fällt.
Eine Darstellung Newtons bei seinem Experiment mit einem Prisma.
gemeinfrei

Farben sind kompliziert. Besonders schmerzhaft musste diese Tatsache der große Dichter Johann Wolfgang von Goethe erfahren, als er mehr als hundert Jahre nach Isaac Newtons Durchbruch in der Beschreibung der Farben des Lichts die Farbenlehre neu aufstellen wollte und daran spektakulär scheiterte. Einsehen wollte er das bis an sein Lebensende nicht: Er bilde sich auf seine dichterischen Fähigkeiten wenig ein, erklärte er einmal, wichtig sei ihm, dass er und nicht Newton die Wahrheit in der Farbenlehre erkannt habe.

Goethe stieß sich an der Idee, dass etwas so "reines" wie weißes Licht zusammengesetzt sein könnte, und glaubte, stattdessen eine Art emotionale Ordnung in den Farben entdeckt zu haben. Zwar ist Grün bei ihm nicht, wie im geflügelten Sprichwort, die Hoffnung. Vielmehr bedeute es "nützlich", wie sich an seinem Farbenkreis ablesen lässt, ganz im Gegensatz zu "edlem" Orange und "gemeinem" Blau. Geeignet, um Newton zu widerlegen, ist all das freilich nicht, auch wenn Goethes "sanfter" und "untechnischer" Umgang mit dem Phänomen der Farbe immer noch Anhänger hat.

Goethe nannte Isaac Newton einen Mann ohne Leidenschaft und Begierden. Doch dessen Erfolg in der Farbenlehre ging furchtlose Experimentationstätigkeit voraus. Ganz im Sinn des Spruchs, dass der Mensch sich selbst das größte Rätsel sei, steckte sich Newton als junger Mann Nadeln zwischen Augenhöhle und Augapfel oder blickte direkt in die Sonne, wie er in seinem Notizbuch dokumentierte. Im Sonnenlicht entdeckte Newton Farbschattierungen.

Ein Prisma brachte Gewissheit: Es zerlegte weißes Licht in verschiedene Farben. Newton ordnete sie nach Ähnlichkeit zu einem Kreis an. Er glaubte, Analogien zu Tonleitern erkannt zu haben, und verarbeitete Muster aus dem dorischen Tonsystem in seinem Farbenkreis. Das ist heute ebenso überholt wie Goethes Farbphilosophie. Immerhin deutet Newton, der davon überzeugt war, Licht bestehe aus Teilchen und nicht aus Wellen, mit dieser Analogie zu Schallwellen an, dass er doch die Wellennatur des Lichts erahnte. Wie Licht zugleich Welle und Teilchen sein kann, klärte erst Jahrhunderte später die Quantentheorie.

In seiner Jugend führt Isaac Newton gewagte optische Experimente durch.
Cambridge University Library (the UL)

Unverlässliche Farbwahrnehmung

Farben folgen gewissen Gesetzmäßigkeiten und lassen sich anordnen. Das ist nicht selbstverständlich, denn nicht alle Menschen nehmen sie gleich wahr: Manche Männer (darunter der Autor dieser Zeilen) finden, dass sich Zehn- und 50-Euro-Schein recht ähnlich sehen, während die meisten anderen EU-Bürgerinnen und -Bürger deutliche Unterschiede erkennen. Bei Männern sind zudem Probleme bei der Unterscheidung von Rot und Grün verbreitet. Das Erleben gewisser Farben bleibt manchen Menschen also vorenthalten. Diese Idee ist das Thema einer Kurzgeschichte von Horror-Papst H. P. Lovecraft. In "Die Farbe aus dem All" weist ein Meteorit eine Färbung auf, die noch nie jemand gesehen hat. Bei Lovecraft führt derart Fremdes naturgemäß geradewegs in den Wahnsinn – ein Horror, 2019 verfilmt mit Nicolas Cage. In dem Film sehen wir freilich keine uns bislang unbekannte Farbe, sondern stellvertretend dafür ein sonderbares Lila, in Verweigerung des Versuchs, der philosophischen Grundidee der Geschichte irgendwie gerecht zu werden. Auch die Geschichte hat ihre Fehler, Stephen King etwa, ein bekennender Lovecraft-Fan, zitierte einmal einen Dialog daraus als mahnendes Negativbeispiel dafür, wie man es nicht machen soll.

Biologisch gesehen sind es die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut, die uns erlauben, Gelbgrün, Blauviolett und Smaragdgrün wahrzunehmen. Die meisten Säugetiere können hingegen nur zwei Farbtöne wahrnehmen. Ein nicht unerheblicher Prozentsatz von Frauen hat sogar einen vierten Typ farbempfindlicher Zellen. Diese "Zapfen" reagieren aber nicht nur auf genau diese Farben, ihre Empfindlichkeitsbereiche überlappen sich stark. Die Zapfen mit ihrer maximalen Empfindlichkeit im Gelbgrünen registrieren auch rotes Licht. Weil sie das besser tun als die anderen beiden Sorten, werden sie Rot-Rezeptoren genannt. All unsere Farbwahrnehmung ist aus Reizen dieser Zellen zusammengesetzt. Das Gehirn leistet erhebliche Rekonstruktionsarbeit, um aus den Signalen der Zapfen ein Farbbild zu erstellen.

Ein mit Wasserfarben gestalteter Farbkreis aus Goethes Hand.
Goethes Farbkreis ordnet den Farben Eigenschaften zu.
gemeinfrei

Die fehlenden Farben des Lichtspektrums

Die Buntheit der Welt, die wir wahrnehmen, ist dabei kein eindeutiges Abbild physikalischer Gegebenheiten. Zwar nehmen wir Licht in bestimmten Wellenlängen als farbig wahr. Das können wir beim Betrachten eines Regenbogens feststellen, der wie Newtons Prisma funktioniert. Umgekehrt entspricht nicht jede uns bekannte Farbe einer bestimmten Wellenlänge des Lichts. Wer sich schon immer gefragt hat, worin der Unterschied zwischen Violett und Purpur besteht, findet hier die Antwort: Violett ist Licht in einer Wellenlänge von etwas mehr als 400 Nanometern. Doch andere Violett-Töne wie Purpur oder Pink fehlen im Regenbogen, sie existieren nur als Mischung der Farben Blau und Rot.

Wenn wir eine Farbe wahrnehmen, können wir also nicht ganz sicher sein, welches Licht wir eigentlich sehen. Es könnte sich um Licht in einer bestimmten Wellenlänge handeln oder aber um eine Mischung aus Licht in verschiedenen Wellenlängen. Diese Mehrdeutigkeit ist als Metamerie bekannt. Auch dass sich aus unseren Farbwahrnehmungen ein geschlossener Kreis bilden lässt, ist bei genauerer Betrachtung verblüffend: Die Wellenlängen des Lichts bilden selbstverständlich keinen Kreis, längere Wellenlängen als die von rotem Licht entziehen sich ebenso unserer Wahrnehmung wie kürzere Wellenlängen als jene von violettem Licht. Der vermeintliche Kreis ist also eigentlich am Übergang von Rot zu Violett unterbrochen. Doch Rot und Violett sehen sich ähnlich. Das liegt an einer Anomalie der menschlichen Farbwahrnehmung: Blaues Licht reizt nicht nur die Rezeptoren für Blau, sondern bis zu einem gewissen Grad auch unsere Rot-Rezeptoren.

Der Herbst präsentiert sich unseren Augen jedes Jahr herrlich bunt. Doch was wir dabei eigentlich sehen, ist gar nicht so einfach zu erklären.
imago images/blickwinkel

Erwin Schrödingers Farbraum

Die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit von Farben kann in der Physik streng anhand der Wellenlängen gemessen werden. Unser Empfinden dieser Ähnlichkeit lässt sich schwerer fassen, wobei diese Frage auch von hohem technischem Interesse ist, wenn es um Farbdarstellung geht. Hier hat sich der Physiker Erwin Schrödinger verdient gemacht. Newtons Farbkreis war nur der Anfang. Seit seinen Arbeiten gab es verschiedene Versuche, die menschliche Farbwahrnehmung zu ordnen. In Schrödingers Studienzeit in Wien waren verschiedene Physiker mit dieser Frage beschäftigt, und es gab miteinander im Wettstreit stehende Schulen, deren Konflikte zum Teil noch auf jene zwischen Newton und Goethe zurückgingen.

Schrödinger war also mit dem Thema vertraut. Er unternahm seine eigenen Studien, bediente sich früherer Arbeiten von Hermann von Helmholtz und erkannte, dass die menschliche Intuition, welche Farben einander ähnlich und welche einander unähnlich sind, nur richtig abgebildet werden kann, wenn die Töne in einem gekrümmten, nichteuklidischen Raum geordnet werden. Solche Riemann-Räume kommen auch in der Relativitätstheorie Einsteins zum Zug, wo Massen den Raum krümmen.

Riemann-Räume haben die Eigenheit, dass sie nicht in ihrer Gänze dargestellt werden müssen. Es genügt, eine Formel für den Abstandsbegriff in jedem einzelnen Punkt zu kennen. Vergleichbar ist diese Situation mit jemandem, der mithilfe von Google Maps durch dichten Nebel fährt. Er kann trotzdem ans Ziel kommen, auch wenn er nie größere Teile der Strecke sieht. Er könnte, ohne es zu merken, auch einen komplexeren Raum befahren, etwa mit Straßen, die in Analogie zu M. C. Eschers unmöglichen Treppen fortwährend ansteigen und trotzdem zum Ausgangspunkt zurückführen.

Das Ganze ist weniger als seine Teile

Zuletzt machte eine Gruppe um die Computerwissenschafterin Roxana Bujack, die am Los Alamos National Laboratory forscht, auf einen bisher übersehenen Aspekt aufmerksam. Menschen sind darauf spezialisiert, Unterschiede zu erkennen. Der Unterschied zwischen ähnlichen Farben wird also im Verhältnis stärker wahrgenommen. Hier ist, in Anlehnung an das bekannte Sprichwort, das Ganze nicht mehr, sondern weniger als die Summe der einzelnen Teile. Das berichtete das Team um Bujack im Fachjournal "Proceedings of the National Academy of Sciences". Dieser Aspekt ist in Schrödingers Farbschema allerdings nicht abgebildet.

Eigentlich habe man versucht, Algorithmen zur automatischen Verbesserung von Farbkarten für die Datenvisualisierung zu entwickeln, um sie leichter verständlich und interpretierbar zu machen. Doch dabei sei aufgefallen, dass die auf der Riemann-Geometrie basierenden Berechnungen der Wahrnehmung zu Farbunterschieden die Größe großer Farbunterschiede überschätzen. Wie sich diese "Nicht-Riemann’sche" Qualität in einen neuen Farbraum verwandeln lässt, wird derzeit untersucht. Doch Bujack ist überzeugt: "Unsere Annahmen über die Form des Farbraums brauchen einen Paradigmenwechsel." Die bunte Welt der Farbenlehre wird also vermutlich in Zukunft noch komplizierter werden. (Reinhard Kleindl, 4.11.2023)