Europa
Lilith Stangenberg spielt in "Europa" eine ruchlose Managerin, die über Leichen geht.
Fratella Filmproduktion

Sudabeh Mortezai hat anscheinend ein Abo auf den Wiener Filmpreis. Zum Abschluss der diesjährigen Viennale gewann sie, nach Macondo (2014) und Joy (2018), erneut – diesmal den Spezialpreis der Jury. Europa galt als eines der Premieren-Highlights der diesjährigen Viennale. Nun kommt er ins Kino.

Der Filmtitel führt auch in Mortezais drittem Spielfilm das Publikum aufs Glatteis. Europa ist darin der Name eines internationalen Konzerns. Zugleich dient er als passender Schlüssel für ein Werk, das kein Geheimnis aus seiner Kritik am Neokolonialismus macht – eine Art umgekehrter Mythos, in dem Europa den Stier entführt. Repräsentiert wird die Firma Europa von Beate Winter, einer undurchschaubaren Businessfrau aus Deutschland. Sie reist als kapitalistische Eroberin ins postsozialistische Albanien, um dort die vermeintliche Fortschrittsflagge zu hissen. Ein Thema des innereuropäischen Machtgefälles, das zuletzt häufiger im Arthouse-Kino präsent war, vom absurd-komödiantischen Toni Erdmann bis zu Sparta mit seiner problematischen Produktionsgeschichte in Rumänien.

Beates Auftrag führt sie, nach einer Empowerment-Ansprache an der Universität von Tirana an zukünftige (weibliche) Führungskräfte, in ein entlegenes Dorf. Grundstücksdeals mit zwei verbliebenen Bauernfamilien stehen im Fokus der Geschichte. Der Zweck des Geheimprojekts bleibt fast bis zum Schluss des Films unklar, hat jedoch mit der Bunkeranlage aus der kommunistischen Diktatur zu tun.

Stellvertreterin für ein ganzes System

Volksbühne-Schauspielerin Lilith Stangenberg spielt diese Figur über weite Strecken ohne doppelten Boden. Kein eiskalter Engel versteckt sich hinter der Kapitalistin, Gewissensbisse bekommt sie aber auch nicht. Ihr nettes Auftreten ist eine Rolle, als Mittel zum Zweck. Wenn sie mit den Einheimischen verhandelt, Kontakte zum religiösen Führer knüpft und sich von ihrer Quartiersgeberin eingelegte Früchte aufdrängen lässt, spüren wir die professionelle Schauspielerei der Managerin kaum, so transparent ist sie.

EUROPA - Trailer OmdU
Filmladen Filmverleih

Filmemacherin Sudabeh Mortezai hat kein Interesse, die Menschlichkeit ihrer Protagonistin zu enthüllen: "Sie repräsentiert ein System." Nur einmal sehen wir sie kurz mit ihrer Familie in Deutschland videotelefonieren, einmal ihrem schmierigen Boss (Jeff Ricketts) Bericht erstatten. Insofern passt es, dass Stangenberg neben Ricketts die einzige professionelle Schauspielende in Europa ist. Als Einzige bekam sie auch von der Regisseurin das gesamte Drehbuch zu lesen.

Authentisch auf Augenhöhe

Das spiegelt wunderbar das Machtverhältnis zu den anderen Charakteren – nicht jedoch jenes von Mortezai zu ihren Laiendarstellenden (Jetnor Gorezi, Steljona Kadillari, Mirando Sylari). "Sie spielen Figuren, die ihnen so nahe sind, dass sie nicht nachdenken müssen", erklärt Mortezai den dokumentarischen Ansatz ihres Spielfilms.

Diese authentische Methode wird somit zur Kehrseite des innereuropäischen Kolonialismus-Themas. Ein Filmemachen auf Augenhöhe, das die deutsch-österreichische Tochter iranischer Eltern hier erstmals fernab ihrer Wiener Heimat weiterentwickelt. Das lobte auch die Filmpreis-Jury: "Ein Film, der uns Mitteleuropäer:innen zu Recht auf schmerzvolle und schonungslose Art und Weise mit unseren Privilegien konfrontiert, die wir sonst nur allzu gern und gekonnt verdrängen wollen." (Marian Wilhelm, 1.11.2023)