Gérard Depardieu
Gérard Depardieu wird seit einigen Jahren sexueller Übergriffe bezichtigt.
APA/AFP/ANNE-CHRISTINE POUJOULAT

Das Verwirrende an Gérard Depardieu ist: Irgendwo in diesem Koloss von einem Mann klingt eine zarte Saite an. Die letzten sechs Jahre frönte der Schauspieler einer neuen Leidenschaft: Er intonierte auf einer endlosen Frankreich-Tour Lieder von Barbara, die 1997 einige der schönsten französischen Chansons hinterlassen hat. Man musste Depardieu erleben, wie er, in Schwarz auf der Bühne, von einem Klavier begleitet sanfte Melodien sang, mit fragiler, manchmal nur gehauchter, bisweilen brechender Stimme. Da stand kein unersättliches Kinomonster mehr am Mikrofon, sondern eine verletzliche, empfindsame Seele.

Doch alle schlug der 130-Kilo-Goliath nicht in den Bann. Vor den Toren der Konzertsäle protestieren Frauen mit Transparenten gegen die Auftritte. "Sie zahlen für einen Vergewaltiger!", riefen sie den herbeiströmenden Konzertgästen in Antibes zu; in Lyon störten sie das intime Rezital mit Schweinemasken. Damit war Depardieu gemeint: Der heute 74-jährige Charakterschauspieler wird von mehr als einem Dutzend Frauen schlimmster sexueller Übergriffe bezichtigt. Frankreich fragt sich, wie es möglich ist, dass sein seit fünfzig Jahren vertrautes Kinogesicht, ja ihr Nationalheiligtum, nun auch ein Verfemter ist wie Harvey Weinstein.

Knast und Männerstrich

Den Beginn einer Antwort bietet vielleicht eine wenig beachtete, nicht einmal 200-seitige Autobiografie, die Depardieu 2014 unter dem Titel "Ça s'est fait comme ça" (etwa: Das hat sich so ergeben) veröffentlicht hat. In seiner bettelarmen Familie aß man nicht zusammen und wusch sich einmal die Woche. Depardieus Erzeuger, ein Schuhmacher und Analphabet, war ein notorischer Trinker und Schweiger. Wegen Diebstählen fliegt Gérard von der Schule. Er hilft einem Älteren, auf dem Friedhof Särge zu plündern; er geht auf den Männerstrich, landet immer wieder im Knast, wo er sich mit den Flics gut versteht.

Einer sagt ihm, er habe Hände wie ein Steinmetz. Eine Erleuchtung: Gérard beschließt, Künstler zu werden. Er fährt mit dem Zug nach Paris. Dort landet er im Theater- und Filmmilieu, wo er als Autodidakt kleinere Rollen erhält, bis er in "Les Valseuses" (deutsch: Die Ausgeflippten) die Rolle seines Lebens einnimmt: Er spielt den gleichen Taugenichts, der er in Châteauroux gewesen war. Es ist der Durchbruch. Alle Regisseure reißen sich um den Sonderling – Truffaut und Resnais, Bertolucci und Ferreri, Peter Weir und Ridley Scott.

Über die Jahre spielt Depardieu den Grafen von Monte Christo und Christoph Kolumbus, Danton und Obelix, Maigret und Rodin. 182 Filme hat der Darsteller auf seinem Konto. Er heiratet mehrmals, mit seiner Filmpartnerin Carole Bouquet war er verlobt. Der Mann, der vor nichts Angst hat, besucht Fidel Castro in Kuba, er verlegt sein Steuerdomizil provokativ nach Belgien; in Paris verkehrt er nacheinander mit dem linken Präsidenten François Mitterrand und dem Konservativen Nicolas Sarkozy. In Moskau freundet er sich mit Wladimir Putin an, weil der in Sankt Petersburg "wie ich fast Verbrecher geworden wäre". Mit dessen tschetschenischem Adlaten Ramsan Kadyrow tanzt er den Kasatschok. "Ich, der Freund von Diktatoren?", fragt er rhetorisch. "Et alors?" Na und?

Pathé France

Sein Alkoholproblem übergeht Depardieu in seinem Lebensbericht. In Paris baut er mit seiner Yamaha T-Max mehrere Unfälle; auf einer Flugreise pisst er in den Mittelgang. Ganz der Mann ohne Scham und ohne Angst, der macht, was er will.

Vor drei Jahren ging der Spaß zu Ende, als eine Schauspielaspirantin gegen Depardieu Klage wegen Vergewaltigung einreichte. Depardieu behauptet, die Frau sei ihm schon das erste Mal "freiwillig" und "leichten Schrittes" ins Schlafzimmer gefolgt, genauso wie sie ihn eine Woche erneut besucht habe. Charlotte Arnoult, so ihr Name, erklärt dies mit dem "starken Einfluss", welche die Ikone auf sie ausgeübt habe. Ein Prozess muss entscheiden.

Schon jetzt scheint ein Damm gebrochen. Im Newsportal Mediapart haben sich dreizehn Frauen zu sexuellen Übergriffen Depardieus geäußert. Eine erzählte, er habe am Drehort die Hosen runtergelassen und ihr seinen Penis gezeigt. "Ich habe den Raum in Panik verlassen. Er holte mich im Gang ein und drückte mich gegen die Wand. Sein Bauch blockierte alles, sodass er nichts tun konnte."

Gesetz des Schweigens

Die zwölf anderen Geschichten ähneln einander. Laut allen Aussagen herrschte in den Filmstudios eine regelrechte Omertà, ein Gesetz des Schweigens, wenn Depardieu den Schauspielerinnen Obszönitäten zurief, wenn er der Schminkerin oder der Kellnerin im Bistro in den Schritt langte oder wenn er brünstige Tierlaute von sich gab. Die Schauspielerin Sarah Brooks berichtete zum Beispiel, wie Depardieu während einer Drehpause seine Hand in ihren Slip gezwängt habe. Sie protestierte. "Er flachste, er hätte gedacht, dass ich im Kino reüssieren wolle. Alle Umstehenden lachten, ich rannte in Tränen davon", erzählte die Schauspielerin.

Andere Filmpartnerinnen Depardieus äußern sich zurückhaltender. Sandrine Bonnaire hat nach ihren Worten "nie eine schockierende Szene mit Depardieu erlebt". Catherine Deneuve, Carole Bouquet oder Fanny Ardant schweigen heute auffällig, nachdem sie Depardieu lange verteidigt hatten.

Der Beschuldigte beteuerte anfangs Oktober per Kommuniqué, er sei "kein Vergewaltiger oder Raubtier": "Falls ich andere verletzt oder schockiert habe, entschuldige ich mich, dass ich mich wie ein Kind benommen habe." Depardieu hat seit 2021 keinen Film mehr gedreht, im Oktober hat Depardieu über seinen Agenten verlauten lassen, er verfolge "keine Projekte" mehr. (Stefan Brändle aus Paris, 6.11.2023)

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