Konzerthaus
Mal Sausewind, mal Trauernder: Pianist Víkingur Ólafsson.

Da ist er. Gemessenen Schrittes und freundlich lächelnd steuert Víkingur Ólafsson im großen Konzerthaussaal Arbeitsgerät und Spielplatz an: den Steinway. Mit seinem properen Haarschnitt, der Brille und dem grünen Anzug aus feinem Tuch könnte der Isländer als junger Teilhaber einer skandinavischen Privatbank durchgehen. Ólafsson ist aber ein gefeierter Pianist. Mit den Goldberg-Variationen tourt er gerade in 88 Konzerten um die Welt. Ein Komponistenleben lang an der Form der Variation eher desinteressiert, hat der reife Johann Sebastian Bach mit seiner "Aria mit verschiedenen Veränderungen" einen Solitär geschaffen. Ólafsson spielt die Aria, deren Melodie "den Verkehr mit dem Rest des Werkes scheut" (Glenn Gould), behutsam, frei schwingend, wunderschön. In den folgenden 30 Variationen über den Bass der Sarabande erschafft der Pianist die Welten neu, die Bach in seinem mathematisch strukturierten Werk vorgezeichnet hat.

Ólafsson wird dabei mal zum Sausewind (Variation 4), mal zum Trauernden (Variation 25). Sein Spiel hat in seiner wohltemperierten Exaktheit etwas Musterknabenhaftes, wirkt aber trotzdem nie spröde, weil es von einer steten Sinnlichkeit gespeist wird. Sorgfältig, ja fürsorglich widmet sich der 39-Jährige den zahllosen dialogischen Motiven, die das polyfone Werk durchziehen. In den Wiederholungen färbt Ólafsson seine Interpretationen oft neu ein, reduziert die Dynamik, drosselt das Tempo leicht. Obwohl bis in die letzte Verzierung durchgearbeitet, wirkt sein Spiel natürlich und wie spontan.

Nach der fulminanten, feuerwerkartigen Virtuosität der letzten Variationen schafft es Ólafsson, alle Erregung vor der Wiederholung der Aria zu kalmieren. Dieser Ausklang des Werkes gelingt ihm so sanft wie ein Streicheln, wie ein Gute-Nacht-Kuss. Stehender Beifall am Freitagabend. (Stefan Ender, 05.11.2023)