Meereis, Schelfeis, Grönland, Klimawandel
Die schwimmenden Eisflächen vor den nördlichen Küsten Grönlands schwinden dahin. Dadurch können sie auch nicht mehr verhindern, dass die Gletscher der Insel weiter ins Meer rutschen und abschmelzen.
Foto: REUTERS/Natalie Thomas

Die riesigen vor den nördlichen Küsten Grönlands schwimmenden Eisflächen bilden eine wichtige Barriere vor den Gletschern der arktischen Insel. Sie sind es vor allem, die verhindern, dass viele Billionen Tonnen Eis in den Ozean schlittern und den globalen Meeresspiegelanstieg erheblich beschleunigen. Doch die Schelfeisflächen sind mittlerweile im Schwinden begriffen, lange werden sie ihre Rückhaltefunktion womöglich nicht mehr erfüllen können, befürchten Klimaforscher.

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AFP

400 Milliarden Tonnen Eis verloren

Eine nun im Fachjournal "Nature Communications" veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass das nördliche Grönlandschelfeis seit 1978 rund 35 Prozent seines Gesamtvolumens eingebüßt hat. Das entspricht einem Verlust von etwa 400 Milliarden Tonnen an schwimmendem Eis. Damit sind inzwischen nur noch fünf von ursprünglich acht großen Schelfeisflächen übrig, die sich von den Fjorden Grönlands in die Grönlandsee und den Arktischen Ozean hinaus erstrecken. "Es sind die letzten verbliebenen Schelfeisplatten des Eisschildes", erklärte Romain Millan, Hauptautor der Studie und Wissenschafter an der Université Grenoble Alpes in Frankreich. "Alle anderen sind kollabiert oder haben sich zurückgezogen."

Drei davon sind besonders wichtig für die Stabilität des grönländischen Eisschildes: Die Petermann-, Ryder- und Nioghalvfjerdsbrae-Schelfeisflächen halten jeweils enorme Gletschermassen zurück. Würden diese ins Meer abrutschen und schmelzen, könnte das zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 1,5 Meter führen. Der Prozess würde freilich Jahrhunderte dauern. Die steigenden globalen Durchschnittstemperaturen durch den menschengemachten Klimawandel machen die verbliebenen Schelfeisgebiete jedoch besonders anfällig für einen weiteren Rückzug und sogar einen Zusammenbruch.

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Riesige Eisberge lösen sich an der Vorderseite des Gletschers Zachariæ Isstrøm, dessen schwimmende Eiszunge 2003 zusammenbrach. Der Eisabfluss von diesem Gletscher in den Ozean hat seither dramatisch zugenommen.
Foto: Anders Bjørk

Doch nicht so stabil

Die Folgen einer solchen Entwicklung offenbaren sich nicht zuletzt bei einem Blick zurück: Der Eisverlust des grönländischen Eisschildes war für 17,3 Prozent des zwischen 2006 und 2018 beobachteten Meeresspiegelanstiegs verantwortlich, berichten die Forschenden. Verlieren die verbliebenen Schelfeisflächen ihre Funktion als "Dämme", die den Abfluss von Eis aus dem Eisschild in den Ozean regulieren, wird das dramatische Folgen für den Meeresspiegel haben, warnen Millan und sein Team.

Die Gletscher in den nördlichen Regionen Grönlands waren von Wissenschaftern bisher eigentlich als einigermaßen stabil angesehen worden – im Unterschied zu anderen Teilen des grönländischen Eisschildes, die bereits Mitte der 1980er-Jahre zu schwächeln begonnen hatten. Als Millan und seine Kolleginnen und Kollegen jedoch tausende Satellitenbilder untersuchten und die Beobachtungen und Feldmessungen mit Klimamodellen zu den Wechselwirkungen zwischen Gletschern, Klima und Ozean in Nordgrönland in Zusammenhang brachten, ergab sich ein anderes Bild.

Mehr Eisabfluss in den Ozean

Der Massenverlust von Schelfeis hat demnach seit dem Jahr 2000 aufgrund der Erwärmung des Ozeans vor allem an der Unterseite der Eisflächen erheblich zugenommen. Außerdem stellten die Autorinnen und Autoren fest, dass sich die landseitigen Gletscher zurückgezogen haben und der Eisabfluss in den Ozean zugenommen hat. Das Team vermutet eine direkte Verbindung mit den Schelfeisverlusten.

"Beim Gletscher Zachariæ Isstrøm zum Beispiel, der 2003 abbrach, hat sich die Eismenge, die an den Ozean verlorenging, seither annähernd verdoppelt", so Millan. "Wie es mit dem Meeresspiegelanstieg weitergeht und was sich in Zukunft rund um die Polregionen abspielen wird, hängt vor allem von den Entscheidungen der Politiker bezüglich der weiteren Treibhausgasemissionen ab", sagte Millan. Gelegenheit für richtungsweisende Entscheidungen haben die Staats- und Regierungschefs der Welt, wenn sie zur nächsten UN-Klimakonferenz COP 28 ab dem 30. November in Dubai zusammenkommen. (Thomas Bergmayr, 8.11.2023)