"Wer sind diese Leute denn?", habe ich mich immer gefragt. "Die Leute", das war eine ominöse Gruppe von Menschen, mit denen ich in meinem Alltag kaum verkehrte, aber trotzdem war es wichtiger als alles andere – ja, auch wichtiger als mein persönliches Glück –, ihre Meinung über die Familie nicht durch vermeintlich schändliches Verhalten zu verderben.

In ihrem autobiografischen Buch "Eine Blume ohne Wurzeln" hat die Journalistin und Autorin Nada Chekh diesen inneren Monolog aufgeschrieben, als Erwiderung auf die oft gehörte Phrase "Was werden die Leute sagen!". Ein Satz, den nicht nur Nada Chekh, Tochter eines Palästinensers und einer Ägypterin, in ihrer Kindheit und Jugend in Favoriten unzählige Male gehört hat. Hinter dem ermahnenden Satz steht das Konzept patriarchaler, kollektivistischer Kulturen und Communitys, deren "Kleber" und Garant für den Fortbestand die permanente soziale Kontrolle der jüngeren Mitglieder, vornehmlich der Mädchen, ist.

Patriarchale, kollektivistische Kulturen und Communitys brauchen soziale Kontrolle als "Kleber" und Garant für den Fortbestand. Für Mädchen gelten meist andere Regeln als für Jungs.
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Wie Chekh im STANDARD-Interview betont, prägt diese Kontrolle nicht nur das Leben der muslimischen Kinder und Jugendlichen in den diversen Communitys. Dieses Konzept ist auch unter den Migranten vom Balkan weitverbreitet, wenn auch in abgewandelter und bisweilen schwächerer Ausprägung.

Früh heiraten

Oft wird sehr früh geheiratet, um der Kontrolle im elterlichen Haushalt zu entkommen. Ausziehen und allein wohnen ist trotz eigenen Einkommens verpönt. Eltern sprechen jahrelang nicht mit ihren Kindern, weil diese Partner haben, die einer anderen Kultur entstammen oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Starre Wertvorstellungen bringen aber nicht nur emotionales Leiden, sie beeinflussen auch Bildungsbiografien und somit das gesamte weitere Leben. Ein ehemaliger Schulkollege hat sein gerade begonnenes Studium abgebrochen, weil die Eltern seiner Freundin darauf bestanden haben, dass sie entweder als "ordentliche Eheleute" zusammenleben oder Schluss machen. Selbstverständlich kann ein Student kein Familienoberhaupt und Alleinverdiener sein, "so wie es sich gehört". Eine begabte Schulkollegin hat in der Oberstufe die Schule verlassen, um zu arbeiten, denn die Ehe mit ihrem "importierten Ehemann" war ein Muss: Man hat sie "unten" schon zusammen gesehen: Was sollen denn die Leute sagen!

Auch jene traditionellen Familien, die großen Wert auf gute, also universitäre Ausbildung legen, erwarten, dass die Kinder trotz sozialen Aufstiegs und angeblicher "Integration" weiterhin die traditionellen Werte vertreten. Diese werden in der Diaspora oft noch strenger und konservativer ausgelegt als in den Herkunftsländern, wo die Zeit nicht stehengeblieben ist. Aber wenn man "runter fährt", will man vorzeigbare Kinder haben: Was sollen denn die Leute sagen?

Die oben genannten Bespiele sind allesamt aus meinem Bekanntenkreis oder der weiteren Verwandtschaft. Lauter Christen übrigens, zumindest auf dem Papier. Und ja, an manchen Sonntagen und hohen Feiertagen lässt man sich auch in der Kirche sehen: Was sollen denn die Leute sonst sagen!

Sanktionen 

Jene jungen Mitglieder der Gemeinschaft, die auf welche Art auch immer "rebellieren", müssen mit Sanktionen rechnen. Im schlimmsten Fall ist das psychische oder körperlich Gewalt. In mildester Ausprägung bringt das Ausscheren Entfremdung und Einsamkeit mit sich, die dann hoffentlich von anderen sozialen Gruppen, wie Freunden oder Wahlfamilien, kompensiert werden.

Es sollte trotz der mutmaßlichen Selbstverständlichkeit betont werden, dass auch eine freiwillige Hinwendung zu einem vergleichsweise konservativen Lebensstil und Weltbild in einer toleranten Gesellschaft legitim ist: Jeder soll nach seiner Façon selig werden – solange er damit niemanden unterdrückt und behindert. Doch auch jene Individuen, die sich von der Herkunftscommunity und der dortigen Lebensweise emanzipieren wollen, haben unsere Aufmerksamkeit verdient.

Unsere Leute

Manchmal stehen hinter Biografien, die zu gerne als "Integrationserfolge" bezeichnet werden, Kämpfe und Schmerzen, von denen die Mehrheitsgesellschaft keine Notiz nimmt. Das sind oft persönliche Erfolge, die unter doppelter Belastung erreicht wurden: gegen den Willen und ohne Unterstützung der Herkunftsfamilie und manchmal auch trotz Diskriminierung als Minderheit. Als Mehrheitsgesellschaft verbuchen wir diese Emanzipationsgeschichten nur zu gerne auch als unseren Erfolg. Wenn man näher hinschaut oder gar nachfragt, erkennt man, dass die Unterstützung in seltensten Fälle institutioneller Natur war. Es ist oft diese eine Lehrerin, die zugehört und Wege aufgezeigt hat. Oder diese eine nette Nachbarin, die mit Mama Kaffee getrunken und ihr Deutsch beigebracht und dann die Hausaufgaben der Wahlenkelkinder kontrolliert hat. Der eine Chef, der den Vater überzeugt hat, dass die Tochter die Weiterbildung in der Großstadt machen sollte, auch wenn sie dort allein leben wird. Es sind also Leute, die sich für die jeweils anderen interessieren und sich auf sie eingelassen haben, damit diese dann "unsere Leute" wurden.

Dieses "Was werden die Leute sagen!" verlässt eine übrigens nie zur Gänze. "Meine Leute" sind jetzt großteils andere als vor 25 oder 30 Jahren. Jetzt mache ich mir eher Gedanken, was die Leute über die Wahl meiner Spielplatzjause sagen werden. Aber das ist eine andere Geschichte, die man hier nachlesen kann. (Olivera Stajić, 9.11.2023)