Spätes, zerbrechliches Glück: Lehrerin Anna (Maria Hofstätter) und der alte Andreas Egger (August Zirner).
Spätes, zerbrechliches Glück: Lehrerin Anna (Maria Hofstätter) und der alte Andreas Egger (August Zirner).
TOBIS Film GmbH

Melancholische Musik, der Hinterkopf eines Buben auf einem Pferdefuhrwerk, dramatische Bergkulisse – man weiß nach Sekundenbruchteilen: Das soll unter die Haut gehen! Immerhin wird hier ja auch ein "ganzes Leben" erzählt. Der zum Star­autor avancierte Schauspieler Robert Seethaler hat dafür 2014 schlanke 160 Seiten gebraucht, die nun in den Kinos zu sehende Verfilmung lässt sich fast zwei dick auftragende Stunden lang Zeit. Vieles daran nimmt einen aber ein.

Das Ankommen des Buben auf dem Bauernhof seines Onkels wird nicht freundlich sein, der Beutel mit Geld um den Hals von Andreas überzeugt ihn dann doch. Am Familienesstisch will er den "Bankert" trotzdem nicht sitzen haben, die Tante immerhin ist nett. Während der Onkel ihn mit dem Haselstock verdrischt, bringt die Tante ihm Kochen und Lesen bei und hat eine Hoffnungsbotschaft: "Das wächst sich aus. Wie alles im Leben." So wächst der Bub zum Mann mit ebenso liebevollem wie entschlossenem Blick heran. Aus Andreas wird "der Egger".

Dramen einfacher Leute

Die Dramen der sogenannten einfachen Leute sind Robert Seethalers Angelegenheit, und Andreas Egger ist eine seiner typischen Figuren. Das Leben mag prekär sein und voller Hindernisse, dennoch strahlen Seethalers vielfach ausgezeichnete, dramatisierte und verfilmte Romane eine zwischenmenschliche Wärme aus. Den Umständen trotzend wird geliebt, wird Freundschaft gepflegt, von einem besseren Leben und Aufstieg geträumt. So auch hier, wenn fürs Holzschlägern bald Münzen in Andreas’ Händen klimpern und er sich einen eigenen Hof pachtet. Er ist anständig, sympathisch, fleißig. Kein Wunder, findet eine Kellnerin im Dorfwirtshaus bald Gefallen am schüchternen Kerl.

TOBIS

Drei verschiedene Darsteller spielen den Andreas, Stefan Gorski macht es in der Altersstufe 18 bis 47 Jahre famos. "Ui, du host jo Kroft", entfährt es Marie (Julia Franz Richter), als er sie zum ersten Mal küsst. Herzzerreißend sehnend hält er ihr beim zweiten Mal das Gesicht hin.

Mit Marie wird Andreas, diese Idealfigur rechtschaffenen Lebens und einer, wie ihn sich Feministinnen nur wünschen können, direkt gesprächig. Insgesamt kommt der Film aber mit wenig Dialog aus.

Imposante Bilder

Stattdessen sprechen die Bilder. So hart das Leben hier auch ist, ­Regisseur Hans Steinbichler nutzt die Landschaft für imposante Berg­panoramen und Darstellungen des Bauerndaseins von archaischer Wucht. Im Wechsel der Jahreszeiten wird geheut, gepflügt, sausen mit der Axt geschlagene Bäume im Schnee ins Tal. Die dunklen Bauernstuben bei Kerzenschein zeitigen dramatische Bildkompositionen im Geist Caravaggios oder Rembrandts.

Verliebt: Marie (Julia Franz Richter) und der Junge Andreas (Stefan Gorski).
Verliebt: Marie (Julia Franz Richter) und der Junge Andreas (Stefan Gorski).
TOBIS Film GmbH

In seinen Einzelteilen ist Ein ganzes Leben besser als in Summe: fantastisch die Bilder, welche, wenn die Gondeln der neuen Seilbahn vorbeiziehen, in Farbigkeit und Komposition an Wes Anderson denken lassen, in ihrem epischen Anspruch aber viel öfter an Regisseur Terrence Malick erinnern wollen. Toll sind viele spannende Perspektiven und die atmosphärisch schwebende ­Kamera. Ausdrucksstark: Andreas’ wettergegerbt markantes Gesicht.

An den Helden geheftet

Groß auch, wie der Film sich so konsequent an den Helden heftet, dass es keine einzige Szene ohne ihn im Bild gibt, und zugleich der Erste und Zweite Weltkrieg, die Elektrifizierung und touristische Erschließung des Tals miterzählt werden. Die Menschheit betritt erstmals den Mond und einen Supermarkt – trotz allem Erlebten bleibt Andreas erstaunlich offen und ihr zugewandt.

Avanciert ja, trotzdem wird diese Bestsellerverfilmung früher oder später auf ORF 2 aufschlagen und ist dafür tauglich. Warum an der Zielgruppe vorbeiproduzieren? Doch sie pusht die Limits. Weil man ihr ansieht, wie viel Aufwand und Liebe eingeflossen sind, tut es einem umso mehr leid, wenn wiederholt schwer schwellende Streicherklänge die in Osttirol gefilmten Szenen zukleistern und den Kitschfaktor so doch unnötig hochtreiben. (Michael Wurmitzer, 10.11.2023)