Mehr als die Hälfte der brasilianischen Feuchtsavanne Cerrado wurden bereits zerstört.
c: WWF/Myke Sena

Das Futter von Europas Rindern, Schweinen und Hühnern wächst mehr als 14 Flugstunden von ihren Ställen entfernt. Sandige Straßen parzellieren, was vom Cerrado noch übrig ist. Denn hier, rund um die Stadt Barreiras im brasilianischen Bundesstaat Bahia, haben die Sojaplantagen die ursprüngliche Feuchtsavanne beinahe vollständig verdrängt.

Hier wird Soja für die Welt angebaut – für China, aber auch für Europa. Nachdem die Abholzung im Amazonas-Regenwald immer weiter in das öffentliche Licht gerückt ist, wird zunehmend im angrenzenden Cerrado gerodet, dessen Namen kaum jemandem etwas sagt. Geht es nach den Profiteuren des Sojabooms, soll das wohl auch so bleiben. Gäste sind auf den großen Sojafarmen nicht gerne gesehen. "Keep out", warnt ein Schild in Großbuchstaben – daneben ist ein Maschinengewehrpiktogramm aufgedruckt.

Drang zum Verkauf

Mit den Waffen der Plantagenbetreiber hat Nascimento Viera de Barros bereits Bekanntschaft gemacht. Nascimento steht in Flipflops und mit einer Machete am Gürtel auf seiner kleinen Farm nahe des Dorfs São Desidério. Hier baut er auf 40 Hektar Yucca, Kokosnüsse, Mangos und Erdäpfel an – wie schon sein Vater und dessen Vater. Aber in den vergangenen Jahren bekam er immer wieder Besuch von den bewaffneten Wachmännern der Riesenfarmen, die ihn dazu drängen wollen, sein Land aufzugeben.

"Aber wo sollen wir hin?", fragt sich der 64-jährige Landwirt. Er sei hier geboren und glücklich – auch wenn sich viel verändert habe in den letzten Jahren. Selbst zum nahegelegenen Rio Grande verweigerten ihm die Wachleute den Zutritt. Der ist ohnehin zusammengeschrumpft, seit die umliegenden Sojabauern das Wasser mit Pumpen fördern. Die seien so groß, dass man beim Schwimmen aufpassen müsse, nicht hineingesogen zu werden, sagt Nascimento. Er ist kein Einzelfall. Auch bei anderen Kleinbäuerinnen wie Maria Souza dos Santos klopft das Agrobusiness regelmäßig an.

Nascimento Vieira de Barros
Immer wieder kommen bewaffnete Vertreter der großen Sojafarmen und bedrängen Nascimento Vieira de Barros, sein kleines Stück Land aufzugeben. "Aber wo soll ich hin?", fragt sich der Farmer.
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Sojaboom

Denn der Sojaboom in der Region ist aufgrund der global wachsenden Nachfrage nach Fleisch ungebrochen. Allein im vergangenen September wurden im Cerrado 516 Quadratkilometer gerodet, mehr als die Fläche Wiens. Im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres stieg die Abholzung um 75 Prozent, während sie im Amazonasgebiet um 59 Prozent zurückging.

Dort hat es das Agrobusiness zunehmend schwerer. Es werden weniger Rodungen genehmigt und illegale Rodungen besser kontrolliert – auch weil der im Jänner angetretene Präsident Lula da Silva angekündigt hatte, die Entwaldung im Amazonas zu beenden.

Das macht den Cerrado, der im Gegensatz zum Amazonas kaum geschützt ist, attraktiver für die Landwirtschaft. Nur 20 Prozent der Flächen müssen Plantagenbesitzer unberührt lassen, der Rest darf genutzt werden. Im Amazonas ist das Verhältnis in etwa umgekehrt.

Savanne in Gefahr

Dabei ist der Cerrado ökologisch ebenso wertvoll. Das Gebiet, das rund ein Viertel der Fläche Brasiliens bedeckt, gilt als die artenreichste Savanne der Welt. Fast nirgendwo ist die Natur so vielseitig. Rund fünf Prozent aller Tier- und Pflanzenarten sind hier beheimatet, darunter der Jaguar, das Riesengürteltier oder der Ameisenbär. Doch mehr als die Hälfte der wilden Feuchtsavanne ist bereits verschwunden.

Und mit ihr die Biodiversität, die um bis zu 70 Prozent zurückgegangen ist. Miguel Souza Neto steht auf einem kleinen Flecken Erde, der bisher von der Landwirtschaft verschont blieb. Der quirlige Umweltaktivist ist besessen von der Vielfalt seiner Heimat, kennt beinahe alle Lebewesen, die hier ansässig sind – oder waren. Er pfeift durch seine hohlen Hände und imitiert die Gesänge seiner liebsten Vogelarten, die er hier immer seltener hört. Als wären die Rodungen allein nicht genug, kommen dazu auch noch Probleme mit Waldbränden. Eigentlich gehören diese zur Cerrado dazu. "Aber früher haben die Flüsse die Brände im Zaum gehalten", sagt Miguel. Da die Farmen das Wasser für ihre Felder abpumpen, fehlen diese natürlichen Feuerbarrieren immer öfter.

Agrarrevolution

Dabei wird die landwirtschaftliche Entwicklung des Cerrado oft als Erfolgsgeschichte erzählt. Das Gebiet galt als unbrauchbar für den Ackerbau. Die Böden sind sauer, arm an Nährstoffen und mit Aluminium belastet. Lange weideten deshalb bloß einsame Kühe in den Weiten der Savanne. Das änderte sich in den 1970er-Jahren, als Brasilien und Japan eine Kooperationsagentur für die Entwicklung des Cerrado schufen. Das Ziel: die Region für industrielle Landwirtschaft nutzbar zu machen.

Miguel Souza Neto kennt die Tierwelt des Cerrado gut. Doch die Artenvielfalt geht dramatisch zurück.
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In Labors wurden Sojapflanzen an die widrigen Bedingungen im Cerrado angepasst, der Boden mit Kalk entsäuert, dazu kamen große Mengen an Kunstdünger und massiver Maschineneinsatz – mit wirtschaftlichem Erfolg. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Produktion beinahe verdreifacht. Heute wird im Cerrado mehr als die Hälfte des brasilianischen Sojas produziert, rund dreimal so viel wie im Amazonas.

Der Agrarwissenschafter Normal Borlaug, Urvater der sogenannten Grünen Revolution und dafür 1970 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, nannte die Entwicklung im Cerrado "eine der größten Errungenschaften der Agrarwissenschaft des 20. Jahrhunderts". Tatsächlich brachte das Agrobusiness, von dem heute indirekt ein Drittel des brasilianischen BIPs abhängt, dem südamerikanischen Land einen gewissen Wohlstand.

Nur wer klotzt, gewinnt

Vom Aufstieg Brasiliens zu einem der größten Agrarproduzenten der Welt profitierten Erntehelferinnen ebenso wie Lkw-Fahrer und Düngerhändler. Nicht nur Brasilien, sondern der ganzen Welt sollen die Cerrado-Farmen bei der Bekämpfung des Hungers geholfen haben, feiern viele Agronomen rückblickend die Entwicklung.

Aber es gibt auch eine andere Seite der Erzählung. Diese kommt von Menschen wie Martin Mayr. Der gebürtige Oberösterreicher kam vor 32 Jahren als Entwicklungshelfer nach Brasilien – und ist seitdem geblieben. Er leitet die NGO 10envolvimento, die aus seiner Tätigkeit als Diakon in Barreiras hervorgegangen ist. Mit seiner Organisation kämpft Mayr gegen die Dominanz des Agrobusiness in der Region. "Die Landwirtschaft lohnt sich erst ab einer bestimmten Größe", sagt Mayr. Vor allem die Aufbereitung des Bodens ist für Kleinbauern zu aufwendig. Das begünstige riesige Farmen – die größte ist mit 315.000 Hektar größer als Vorarlberg – und Landgrabbing.

Martin Mayr
Der in Brasilien lebende Österreicher Martin Mayr kämpft seit Jahrzehnten gegen das dominierende Agrobusiness.
Philip Pramer

Grillen fressen Rechte auf

Dabei nutzen Großfarmer eine Methode, die sich bereits im Amazonasgebiet bewährt hat: "Grilagem", Portugiesisch für "Grillen". Dabei stecken sie gefälschte Verträge, die einen angeblichen früheren Besitzanspruch belegen sollen, in eine Kiste mit Grillen, um das Papier künstlich altern zu lassen, erzählt Mayr. Zumindest früher soll das so funktioniert haben. Die heutigen Methoden sind ausgefinkelter, digitaler.

Auch Mayr setzt auf Technologie – so greifen er und sein Team auch auf Satellitendaten zurück, um illegale Rodungen aufzuspüren, auch wenn die Organisation immer noch ausrücken muss, um einen Verdacht zu bestätigen. "Die hier zum Beispiel haben wir angezeigt", sagt Mayr, als wir mit dem Bus, in dem das Interview stattfindet, eine Farm passieren. Das Problem: Die meisten Rodungen sind legal.

Maria Souza dos Santos will ihr Land nicht aufgeben.
Philip Pramer

Schutzplan für den Amazonas

Viele bezweifeln, dass sich daran bald etwas ändert. Zwar kündigte Präsident Lula für den Cerrado einen ähnlichen Schutzplan an wie für den Amazonas. Aber sein eigenes Kabinett ist sich uneins darüber, wie stark man gegen Umweltzerstörung, die auch Wachstum bringt, vorgehen will. Dazu hält die Opposition weiterhin die Mehrheit im brasilianischen Kongress, wo die Agrarlobby ohnehin stark ist. Auch der Präsident selbst äußert sich widersprüchlich. "Wir haben unseren Cerrado in hochproduktives Ackerland verwandelt", sagte Lula etwa bei einer Rede in Südafrika Ende August. "Und wir können das in der afrikanischen Savanne wiederholen."

Wie es um die Zukunft des Cerrado steht, wird aber auch in Brüssel entschieden. Dort hat sich der EU-Rat auf die europäische Entwaldungsverordnung verständigt, die nach einer Übergangsfrist Ende 2024 wirksam wird. Wer in der EU mit bestimmten Waren handelt, darunter Rindfleisch, Soja, aber auch Kautschuk und Holz, muss dann nachweisen, dass sie nicht auf Flächen produziert wurden, die nach 2020 abgeholzt wurden.

Wann ist ein Wald ein Wald?

Der Unterschied zu früheren Verordnungen: Das Handelsverbot gilt auch, wenn die Rodung im Ursprungsland legal wäre. Die neue Regel könnte also verhindern, dass Soja aus frisch abgeholzten Cerrado-Gebieten in europäischen Futtertrögen landet.

Könnte. Denn die EU versteht unter Wald die Definition der UN-Ernährungsorganisation FAO. Demnach müssen in einem Wald Bäume wachsen, die mindestens fünf Meter hoch sind. Das trifft aber nur auf rund ein Viertel des Cerrado zu.

"Das Gesetz ist ohne Zweifel ein Meilenstein", sagt Julia Haslinger, Expertin für nachhaltige Ernährung bei WWF Österreich. Sie betont die Vorbildwirkung der Verordnung für andere Staaten, sieht allerdings die Definition von Wald viel zu eng gefasst. Der WWF fordert, dass künftig auch "waldähnliche Ökosysteme", also auch Feuchtgebiete oder Savannen, wie der Cerrado eines ist, in die Verordnung aufgenommen werden. "Ansonsten wäre das für den Cerrado eine Katastrophe", sagt Haslinger.

Von der EU-Waldschutzverordnung sind nur Gebiete geschützt, in denen Bäume mindestens fünf Meter hoch wachsen. Das trifft nicht auf alle Teile der Cerrado zu.
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Spillover-Effekt

Sie befürchtet, dass es einen sogenannten Spillover-Effekt gibt – wenn der Amazonas für EU-Exportsoja tabu wird, könnte die Zerstörung im Cerrado für das Agrobusiness umso attraktiver werden.

Viele argumentieren zudem: Die EU sieht den Wald vor lauter Baumhöhedefinitionen nicht. Denn umso weniger die Bäume und Büsche im Cerrado in die Höhe wachsen, desto mehr wurzeln sie in die Tiefe. Als "umgedrehter Wald" wird das Gebiet deshalb oft bezeichnet, dessen Wurzeln und Erde Milliarden Tonnen CO2 speichern. Im Vergleich zu Wäldern ist der klimaschädliche Kohlenstoff dort sicherer vor Dürren und Bränden.

Dass es auch Alternativen zu den riesigen Monokulturen gibt, zeigen Menschen wie Fátima Cabral. Sie führt eine gemeinschaftliche Landwirtschaft nahe der Hauptstadt Brasília. In die Wände ihres Lehmhauses sind alte Glasflaschen eingegossen, die den Innenraum in bunte Farben tauchen. "Auch das ist Kreislaufwirtschaft", sagt sie und lacht. Ursprünglich Beamtin, zog es sie vor 21 Jahren in die Landwirtschaft, die sie zunächst konventionell betrieb. "Wir haben das gleiche Gift benutzt wie alle anderen hier auch", erinnert sie sich. Auf einer Indienreise wurde ihr schließlich bewusst, was sie der Umwelt antat – und stellte auf ökologische Agroforstwirtschaft um.

Fátima Cabral setzt mit ihrer Agroforstwirtschaft einen Kontrast zum Soja.
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Kein Amazonas ohne Cerrado

Auf ihren Feldern wachsen Kaffee, Bananen, Zwiebeln, Karotten und mehr scheinbar kreuz und quer zwischen Bäumen. Alles hier ist miteinander verknüpft: Der Schatten schützt vor Trockenheit, die Baumkronen spenden Schatten, die Wurzeln Stabilität. Die Vielfalt an Pflanzen lockt wiederum Tiere an, die Schädlinge in Schach halten. "Ja, es ist mehr Arbeit", sagt Fátima. Aber gleichzeitig lässt sich pro Hektar hier ein Vielfaches von dem produzieren, was die großen Faziendas mit ihrem Soja schaffen. Essen, das auf Wochenmärkten und an lokale Restaurants verkauft wird statt auf dem Weltmarkt, fügt die Landwirtin hinzu.

Solche Projekte sind in einem der größten Sojaanbaugebiete der Welt selten. Der Cerrado gilt gemeinhin als "sacrifice zone", als bewusstes Opfer, das hingenommen wird, um den biologisch noch wertvolleren Amazonas zu schützen. Doch am Ende wird auch der Regenwald nicht ohne den Cerrado überleben können.

Unterirdische Wasserreservoirs

Die unterirdischen Wasserreservoirs der Savanne speisen die wichtigsten Flüsse des Landes und versorgen auch den Amazonas mit Feuchtigkeit. Sinkt der Wasserspiegel im Cerrado, ist, wie Studien zeigen, nicht nur die Sojaernte in Gefahr, sondern auch der Regenwald.

Noch ist das Wasser da. Inmitten riesiger Bewässerungskreisel ergießt sich nördlich von Barreiras ein Wasserfall in die Tiefe. "Acaba Vida", heißt er, Portugiesisch für "Ende des Lebens". Eine unruhig plätschernde Warnung. (Philip Pramer aus Barreiras, 15.11.2023)