Seipel und Putin
Hubert Seipel (links) kam dem russischen Präsidenten Wladimir Putin so nahe wie kaum ein anderer westlicher Journalist.
Collage: derStandard/Friesenbichler Foto: Imago, APA (2

Die entscheidende Frage trifft Hubert Seipel live im Radio. Nach einer guten Viertelstunde fragt ihn SWR-Moderator Wolfgang Heim eher neugierig als inquisitorisch: "Haben Sie jemals Honorar, wenn ich so direkt fragen darf, aus Russland bezogen?"

Hubert Seipel wiederholt die Frage, scheinbar ungläubig und entsetzt. "Honorar aus Russland?", fragt er zurück.

"Geld", präzisiert Heim trocken.

"Sie meinen also direkt von …"?

Heim bietet beides an: "direkt oder indirekt".

Aber da fällt ihm Seipel schon ins Wort: "Geht's noch?" Und gleich noch mal, offenbar jetzt wieder eine Spur gefasster: "Darf ich meine Antwort geben: Geht’s noch"?

Und dann bellt Seipel mehr, als dass er spricht: "Nein!"

Was soll man sagen: Das war eine Lüge.

Hubert Seipel, Russland-Kenner, Putin-Biograf, Grimme-Preis-Träger, Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, wurde aus Russland bezahlt, und zwar allem Anschein nach seit mindestens zehn Jahren. Das belegen geheime Unterlagen, die dem STANDARD-Partner Paper Trail Media zugespielt wurden. Demnach unterschrieb Hubert Seipel im März 2018 einen Vertrag, der ihm mindestens 600.000 Euro einbringen sollte.

Ein Sponsor aus Russland

Eine direkte Gegenleistung ist in dem Arrangement nicht vorgesehen, das auf Englisch mit "Deed of Sponsorship" überschrieben ist, also eine Art "Sponsorenvertrag" darstellt. Mit der doch enormen Summe soll, so ist in dem Vertrag zu lesen, die Entwicklung eines Buchprojekts über Russland unterstützt und dieses einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden. Tatsächlich erschien das derart "geförderte" Buch 2021 unter dem Titel Putins Macht. Warum Europa Russland braucht im renommierten Hamburger Verlag Hoffmann und Campe. Von dem Sponsorendeal dahinter? Erfährt die Leserschaft kein Wort.

Die große Frage ist ohnehin erst einmal: Wer bezahlt so viel Geld, um ein Buch zu "fördern"? Ein Buch noch dazu, das bei einem großen deutschen Verlag erscheint – vermutlich gegen ordentliches Buchhonorar? Der "Sponsor" versteckt sich hinter einer Briefkastenfirma namens De Vere Worldwide Corporation, die ihren Sitz auf den britischen Jungferninseln (BVI) in der Karibik hat – und auf dem Papier einem Mann namens Igor Woskresensky gehört. In den geleakten Unterlagen finden sich zahlreiche Hinweise dafür, dass Woskresensky als Strohmann für den langjährigen Tui-Großaktionär Alexej Mordaschow agiert, der auch einer der Teilhaber der Bank Rossija ist – die unter Russland-Experten als Putins persönliche Brieftasche gilt,

Mordaschow und Miller
Alexej Mordaschow (links) und Gazprom-Chef Alexej Miller vor einem Treffen mit Putin im Herbst 2023.
EPA/MIKHAIL METZEL/SPUTNIK/KREML

Mordaschow, wohl zwanzig Milliarden Dollar schwer, ist so nah an Putin, dass er seit Februar 2022 von den USA und der Europäischen Union sanktioniert wurde. Der EU-Gerichtshof hat Mordaschows Beschwerde gegen die Sanktionierung im September 2023 verworfen.

Der bezahlte Journalist

Hubert Seipel ist damit wohl der erste prominente westliche Journalist weltweit, der nachweislich aus Putins Zirkel mit enormen finanziellen Anreizen gelockt wurde, allem Anschein nach, um so positive Berichterstattung über Russland zu erreichen. Mit Sicherheit ist der Fall Seipel der spektakulärste Fall eines aus Russland bezahlten Journalisten – es geht um hunderttausende Euro.

Der Fall Hubert Seipel: Wofür bekam der Journalist 600.000€? I Cyprus Confidential Part 1 I frontal
Alles beginnt mit einem Leak: Geheime Datensätze mit rund 3,6 Millionen Dokumenten.
frontal

Die Recherche zu Seipels Sponsorenvertrag ist Teil des "Cyprus Confidential"-Projekts, im Rahmen dessen in den vergangenen Monaten mehr als 270 Journalistinnen und Journalisten von 69 Medienhäusern geleakte Daten aus Zypern ausgewertet haben, unter Leitung des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) und von Paper Trail Media. Unter den Medienpartnern waren die Washington Post und der Guardian im deutschsprachigen Raum haben DER STANDARD, ORF, Der Spiegel, ZDF und das Schweizer Medienhaus Tamedia mitrecherchiert.

Putin und Seipel 
Seipel und Putin im Jahr 2013.
imago stock&people

Auf Seite vier des heiklen Vertrags mit De Vere Worldwide Corporation aus dem Jahr 2018 finden sich die Unterschriften. Jene der Scheindirektorin der Briefkastenfirma, die eigentlich Angestellte des zyprischen Finanzdienstleisters Cypcodirect ist, der Firmen wie De Vere diskret verwaltet, und augenscheinlich auch eine Unterschrift Seipels. Der Filmemacher unterschrieb nicht nur klar und gut lesbar, sondern sogar in Anwesenheit des Moskauer Anwalts Dmitrij Fedotow, der das – direkt darunter – schriftlich bezeugt. Fedotow war jahrelang Chefjurist in Alexej Mordaschows Konzern Severstal.

Zumindest Seipels Unterschrift lässt sich abgleichen, mit einem signierten Exemplar seiner Putin-Biografie, die vor einigen Monaten auf einer Online-Plattform gebraucht verkauft wurde. Die beiden Unterschriften ähneln einander sehr, was inzwischen keine entscheidende Rolle mehr spielt, weil Hubert Seipel den Deal mit Mordaschow nicht nur schriftlich bestätigt hat, sondern den zugrunde liegenden Vertrag in seiner Antwort an STANDARD, Spiegel und ZDF sogar passagenweise selbst zitiert.

Vereinbarung zu Putin-Biografie

Und offenbar steht Seipel schon länger auf der Payroll Russlands: Auf einem anderen Dokument aus dem Leak findet sich nämlich der handschriftliche Hinweis, dass es mit Seipel bereits zuvor eine "ähnliche" Vereinbarung gegeben habe, eine "similar deed" aus dem Jahr 2013. Dazu hat jemand, ebenfalls handschriftlich, präzisiert, worum es bei diesem vorhergehenden Vertrag ging: "Putin biography". Das passt, denn genau das hat Hubert Seipel 2015 bei Hoffmann und Campe veröffentlicht: eine Putin-Biografie.

Die Spuren zum Geldgeber des ersten Deals führen erneut zu einer klandestinen Firma im weitverzweigten Offshore-Netzwerk von Mordaschow. Seipel selbst spricht in seiner schriftlichen Antwort davon, dass Mordaschow ja seine "Buchprojekte" gesponsert habe. In der Mehrzahl. Damit bleiben kaum mehr Zweifel.

Auch wenn unklar ist, wie viel Geld für die erste "ähnliche" Vereinbarung floss, also für die Putin-Biografie, wird man auch dieses Buch nicht mehr ernst nehmen können. Im Grunde färbt das viele Geld auf das gesamte Werk Seipels ab.

Hubert Seipel galt vielen als einer der besten Kenner von Putins Russland – und als der westliche Journalist mit dem besten Draht zu Wladimir Putin. Das war sein großes Asset, seine Marke, sein "brand". Und jetzt stellt sich die Frage, ob man ihn, der in den Achtzigern auch für den Spiegel und den Stern geschrieben hat und der für die ARD hochgelobte und preisgekrönte Filme gemacht hat, überhaupt noch Journalist nennen sollte. Und nicht Propagandist.

Seiner Leserschaft verriet Seipel die Geldflüsse aus Russland nicht, er beeindruckte sie vielmehr mit seiner Nähe zu Putin. Zur besten Sendezeit konnte er den russischen Präsidenten im November 2014 für die ARD interviewen und sein Gespräch dann selbst in einer hochkarätigen Runde bei Günther Jauch diskutieren. Damals war vermutlich schon das erste Geld aus Russland an Seipel geflossen; die erste Sponsoring-Vereinbarung stammt laut den geleakten Dokumenten aus dem Jahr 2013.

"Ich, Putin – ein Porträt"

Ein Jahr zuvor, im Februar 2012, hatte Seipel mit Ich, Putin – ein Porträt eine 74 Minuten lange ARD-Dokumentation vorgelegt, die auch Servus TV mitproduziert hat – und die anschließend in elf Länder verkauft wurde. Vermutlich haben sich bei den Dreharbeiten die Bande zum Herrscher des Kreml verfestigt, Gelegenheiten gab es jedenfalls genug: Seipel zeigt einen verschwitzten Putin, der allein auf dem Spielfeld Eishockey trainiert, er zeigt ihn beim Judo-Training oder im Schwimmbecken und wie er anschließend einen Hund liebkost. Kritik an Putin kommt dagegen nur am Rande vor. Anfang 2014 konnte Seipel dann als erster westlicher Journalist ein TV-Interview mit dem nach Russland geflohenen NSA-Whistleblower Edward Snowden präsentieren.

Nach und nach wird Seipel, der sich ab 2009 journalistisch auf Russland konzentriert, zu einem der wichtigsten deutschen Russland-Experten – auch wenn sein Expertentum, er spricht ja noch nicht einmal Russisch, immer wieder angezweifelt wird. Auch in der ORF-Sendung Im Zentrum tritt Seipel auf. Dort schwärmt er, Putin "knapp hundertmal" getroffen zu haben.

Vertrag
Der Sponsorship-Vertrag mit Seipel.
Faksimilie

Aber zwei Sponsoring-Verträge über Hunderttausende von Euro verändern alles. Die heimlichen Geldflüsse, sie zertrümmern Seipels behauptete Unabhängigkeit, und sie vernichten sein Werk jener Jahre. Die Arbeit eines "gekauften" Journalisten ist nichts mehr wert. Ein Desaster nicht nur für Hubert Seipel übrigens, auch für die ARD und speziell den NDR, für den er besonders häufig tätig war – und für das Verlagshaus Hoffmann und Campe: also für all jene, die seine Filme, Interviews und Bücher einem Millionenpublikum zugänglich gemacht haben.

Der Inhalt von Seipels Büchern, Filmen und Debattenbeiträgen erscheint nun in ganz neuem Licht – auch wenn es im Sponsoring-Vertrag heißt, dass Seipel dem Sponsor gegenüber "keine Verpflichtung" habe, was das Projekt angehe. Dazu zählt laut dem Geheimvertrag ganz dezidiert, dass dies auch für "den Inhalt und die Komposition des Buches" gelte. Seipel verweist dem STANDARD gegenüber auf diese Klausel, er kopiert sie sogar in seinen seitenlangen Antwortbrief, wohl als Beleg für seine Unabhängigkeit.

Aber wenn die hunderttausenden Euro aus Russland seiner Ansicht nach kein Problem für seine Glaubwürdigkeit sind – warum hat er die Gelder bislang verschwiegen?

Die Antwort ist vermutlich einfach: weil ihn niemand mehr ernst genommen hätte.

Übersetzungen der "Bestseller"

Beide aus Russland "geförderten" Bücher Seipels werden vom deutschen Verlag als Bestseller vermarktet und haben sich demnach tausende Male verkauft, das erste laut einem Branchendienst sogar über 50.000-mal. Zudem gab es Editionen im Ausland, und nicht nur in Italien, den Niederlanden oder Frankreich, sondern auch in Ländern, die seltener europäische Autoren veröffentlichen, wie China, Saudi-Arabien und natürlich Russland.

Bei der Buchpräsentation der russischen Ausgabe war der Stargast dann auch nicht der Autor – sondern Putin selbst.

Wer bei Seipels ehemaligen Arbeit- und Auftraggebern und Kollegen nachhört, stößt einerseits auf Staunen, dass einer dermaßen viel riskiert. Aber auch auf Menschen, die nicht wirklich überrascht sind. Eine Sprecherin des Verlags Hoffmann und Campe, der auch Autoren wie Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Christian Lindner oder Hans-Dietrich Genscher veröffentlicht hat, stellt auf STANDARD-Anfrage fest, man habe "keine Kenntnis von den von Ihnen erhobenen Vorwürfen zu 'Sponsoring-Übereinkünften'", behalte sich aber weitere Schritte vor, sollten sich diese bewahrheiten. Der NDR erklärt zudem, dass Seipel "über eine etwaige Interessenkollision, wie zum Beispiel eine Bezahlung", hätte informieren müssen. Bei einer "Zahlung zur Beeinflussung eines Autors", so der NDR, sähe der Sender "sich und sein Publikum getäuscht".

NDR Logo
Der NDR muss sich nun mit den Seipel-Filmen beschäftigen – bestätigten sich die Vorwürfe, sehe der deutsche Sender "sich und sein Publikum getäuscht".
IMAGO/penofoto

Als DER STANDARD Hubert Seipel am Ende dieser Recherche mit den Vorwürfen konfrontiert, streitet Seipel am Telefon erst einmal Geldflüsse aus Russland ab – das sei "ein ziemlicher Schwachsinn", sagt er und kündigt eine Reaktion seines Anwalts an.

Tatsächlich antwortet er dann auf die nachgereichten schriftlichen Fragen selbst, allerdings ohne die Fragen wirklich zu beantworten. Stattdessen schickt er eine acht Seiten lange Stellungnahme, die irgendwo zwischen mühsam eröffneten Nebenschauplätzen (aber die USA!) und trotzigem Gegenhalten (Suggestivfragen! Kampagnenjournalismus!) mäandert. Zu den eigentlichen Vorwürfen kommt nicht viel. Er bestätigt, dass hinter der "Sponsorship" der Oligarch Alexej Mordaschow steckt, er bestätigt, dass er für seine Bücher Geld bekam. In Hubert Seipels Welt ging es aber selbstverständlich nie darum, ihn zu korrumpieren. Stattdessen habe Mordaschow ihm die aufwendigen Recherchen für seine beiden Bücher ermöglicht. Warum das Geld aber von jener Briefkastenfirma De Vere geschickt wurde und warum all das so geheim bleiben musste, das erklärt Seipel nicht.

Alexej Mordaschow nahm auf Anfrage zu den Vorgängen um Hubert Seipel keine Stellung, ebenso wenig Strohmann Woskresensky, Anwalt Fedotow und der russische Präsident Wladimir Putin.

"Vere" heißt auf Lateinisch übrigens "wahrheitsgemäß". Eine ganz eigene Pointe also, und vielleicht ein Hinweis, dass selbst in der trockenen Welt der Briefkastenfirmen eine Spur von Ironie überleben konnte. (Sophia Baumann, Carina Huppertz, Frederik Obermaier, Bastian Obermayer, Timo Schober und Mika Velikovskiy, 14.11.2023)