An roten Pfeiferln fehlt es nicht. In rauen Mengen finden sie Dienstagvormittag auf dem Wiener Schwedenplatz Absatz. Fahnen werden gehisst, Wimpel geschwungen. Der mitreißende Rhythmus der Trommler bringt Beine zum Tanzen. "Ich freue mich jedes Mal wieder darauf, die Transparente zu sehen", sinniert ein Plakatträger und blickt versonnen auf die wachsende Zahl an Mitstreitern und Mitstreiterinnen. Widerstand schlägt ihm erst entlang des Wegs durch die Innenstadt entgegen. Ein harter Windstoß droht ihm die Banner zu entreißen.

Gewerkschafter machen ihrer Empörung über laufende Gehaltsverhandlungen Luft.
APA/ROLAND SCHLAGER

Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass die Gewerkschaft Österreichs Handelsangestellter dazu aufrief, für höhere Gehälter zu demonstrieren. Vier Prozent mehr hatten ihnen die Arbeitgeber damals geboten.

Heuer legten sie auch in der zweiten Verhandlungsrunde kein Angebot. Grund dafür seien "utopische" Forderungen der Arbeitnehmer, die sich in elf Prozent mehr Gehalt bei weniger Arbeitszeit manifestieren. Nur Zahlen in den Ring zu werfen sei zu wenig, ließen die Arbeitgeber wissen.

Doch von Einmalzahlungen, die sie den Beschäftigten schmackhaft machen wollen, will unter den Hunderten Beschäftigten des Handels, die sich einmal mehr zum Protestzug formieren, keiner etwas wissen. Diese seien bestenfalls der Schnittlauch aufs Butterbrot, zitiert ein Gewerkschafter die Metaller.

"Schmerzgrenze erreicht"

Er sei schon mit Pfeiferl im Mund aufgewachsen, meint der ältere Herr augenzwinkernd. Was das Feilschen um Löhne betrifft, versteht er keinen Spaß: Die Inflationsrate von 9,2 Prozent gehöre abgegolten – und angesichts des hohen Anteils an Teilzeitarbeit und Frauen im Handel seien zehn Prozent nur gerecht.

Sie habe 42 Jahre im Handel gearbeitet, wirft seine Frau ein. Sie habe beim Konsum gelernt, fünf Eigentümerwechsel erlebt und einst vor Gericht dafür gekämpft, dass die Kassiererinnen bei Adeg finanziell richtig eingestuft wurden. "Am schlechten Umgang mit Beschäftigten hat sich seither aber wenig geändert."

Ihr Arbeitgeber, ein Buchhändler, erziele Rekordumsätze, erzählt eine junge Angestellte. Der Arbeitsdruck aber wachse, vor allem an Samstagen seien Filialen unterbesetzt. Finanzielle Anerkennung habe sie nie erfahren. "Um sich Miete, Gas und Lebensmittel noch leisten zu können, muss man mittlerweile offenbar auf die Straße gehen."

Man müsse froh sein, mit Jobs im Handel nicht in Altersarmut zu enden, ergänzt ein Branchenkollege erbittert. "Es wird Zeit für einen Streik." Bisher habe man es nicht gewagt, öffentlich mehr Geld zu fordern, geben Beschäftigte eines großen Autoteilehändlers zu. Nun sei jedoch ihre Schmerzgrenze erreicht. Reihenweise gingen Kollegen ins Burn-out, der Rest schiebe 200 bis 300 Überstunden. "Wir können nicht mehr."

Hart auf hart

Über die Rotenturmstraße zieht die Kolonne der Arbeitnehmer zum Stephansplatz. Es ist ein farbenfrohes Motiv, das Touristen die Handykameras zücken lässt. Urlauber aus England lassen sich die Beweggründe des Protests erläutern und nicken verständnisvoll. "Nichts anderes passiert auch bei uns." Man solle nicht nur auf Glocken des Steffls hören, sondern auch auf die Stimmen der Menschen, meint eine Passantin und signalisiert Solidarität.

Ruhiger wird es in der Spiegelgasse. Auf das Ersuchen der Exekutive bleibt die nahe Kärntner Straße vom Aufmarsch unbehelligt. Trommelwirbel und Pfeifkonzerte setzen erst wieder neben der Oper direkt vor dem Geschäft von Rainer Trefelik, Chefverhandler der Arbeitgeber, ein. Polizisten schirmen es grimmigen Blickes mithilfe von Gittern ab. Er solle die Kundgebungen vor seiner Tür nicht persönlich nehmen, habe ihm die Gewerkschaft geraten, sagt Trefelik. "Was sind ihre Worte wert?"

Respektlos sei es, Beschäftigten kein Angebot zu machen, ruft GPA-Vorsitzende Barbara Teiber von der kleinen mobilen Bühne. Einmalzahlungen zuzulassen hieße für Angestellte, in ihrem Lebenseinkommen auf zehntausende Euro zu verzichten. Trefelik wiederum ortet keinerlei inhaltliche Bewegung der Arbeitnehmer. "Um elf Prozent höhere Gehälter sind nicht realisierbar."

"Keine Luftschlösser"

Unter Druck sehen sich vor allem kleinere Betriebe. Er habe niemals Luftschlösser gebaut, stets sparsam und nachhaltig agiert, schreibt ein niederösterreichischer Fachmarkthändler in einem Brief an die Gewerkschaft, der dem STANDARD vorliegt. Doch seit Herbst 2022 habe sich die Lage dramatisch verändert.

Sein Unternehmen, das seit bald 130 Jahren in Familienbesitz steht, sei infolge der hohen Kosten und stark gesunkenen Umsätze innerhalb eines Jahres in die Verlustzone geschlittert. "Meine Hausbanken werden nicht ewig zusehen."

Er halte um zehn Prozent höhere Löhne für seine 29 Beschäftigten für gerecht. Die damit für ihn verbundenen Mehrkosten von gut 100.000 Euro könnten sich jedoch Unternehmen wie das seine nicht leisten, zumal er 2024 auch mit dreimal höheren Energiekosten infolge auslaufender Altverträge rechnen müsse.

Er selbst arbeite 80 bis 100 Stunden die Woche, zahle sich dafür monatlich als Geschäftsführer 3100 Euro netto aus und habe aus Rücksicht auf die finanzielle Situation sein eigenes Gehalt heuer nur um 2,5 Prozent erhöht. Er besitze kein Firmenauto, erlaube sich nur zwei Wochen Urlaub im Jahr. Für Hobbys bleibe keine Zeit, sein Familienleben leide.

Der Händler appelliert an die Verhandler, sich auf ein annehmbares Maß zu einigen. Andernfalls müsse er handeln, um sich keiner fahrlässigen Krida schuldig zu machen.

Der Unternehmer ist sich sicher: Rückblickend wäre er mit einem anderen Job besser beraten gewesen. Seinem Sohn werde er den Betrieb sicher nicht übergeben. "Das kann man seinem Kind nicht antun." (Verena Kainrath, 14.11.2023)

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