Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger in ihrem Büro in Wien.
Beate Meinl-Reisinger erwartet von Zuwanderern kein Bekenntnis zum Dirndl oder Brathuhn, aber zu Österreichs demokratischen Grundwerten, wie sie sagt.
Heribert Corn

Beate Meinl-Reisinger schreibt gerade ein Buch über die Demokratie und ihre Zukunft. Fertig ist es noch nicht. Oft arbeite sie nachts daran, wenn die Kinder schlafen. Dass sich Menschen angesichts der Weltlage ins Private zurückziehen, könne sie nachvollziehen. Auch sie freue sich auf die neue Staffel von "The Crown". Jetzt sei dennoch der falsche Zeitpunkt, um in ein Neo-Biedermeier zu schlittern, findet die Liberalen-Chefin.

STANDARD: Es wird gerade viel darüber nachgedacht und diskutiert, wo wir innerhalb einer liberalen Gesellschaft die Grenzen der Freiheit ziehen. Wo verlaufen denn Ihre?

Meinl-Reisinger: Eine liberale Demokratie basiert auf Pluralität und damit auf der offenen Gesellschaft. Ich bin aber – ganz im Sinne von Karl Popper – der Meinung, dass es keine Toleranz für Intoleranz geben kann. Die offene Gesellschaft muss wehrhaft sein.

STANDARD: Was heißt das im Alltag?

Meinl-Reisinger: Die Gedanken sind frei, Taten nicht. Wenn jemand auf einer Demonstration den barbarischen Überfall der Hamas feiert, ist eine Grenze überschritten.

STANDARD: Wenn also junge Männer auf die Straße gehen und "Allahu akbar" rufen, weil ...

Meinl-Reisinger: ... dann habe ich damit ein ganz großes Problem. Es ist in Ordnung, auf die humanitäre Lage in Gaza aufmerksam zu machen, es ist völlig okay, Israels Politik zu kritisieren. Wäre ich Israelin, ich wäre auch gegen Netanjahu auf die Straße gegangen. Aber wer die Ermordung von Juden feiert, den Staat Israel auslöschen oder bei uns das Kalifat ausrufen will, hat bei uns nichts verloren.

STANDARD: Gegen falsche Ideologie und Idiotie ist der Staat aber weitgehend machtlos.

Meinl-Reisinger: Es gibt Punkte, da wird man nachschärfen müssen.

STANDARD: Wo konkret?

Meinl-Reisinger: Man kann im Vereinsrecht nachbessern oder auch im Strafrecht. Wenn antidemokratische Haltungen offen zur Schau gestellt werden, ganz egal, von welcher Seite das kommt, wenn Flaggen zerrissen werden, wenn Juden der Tod gewünscht wird, dürfen wir das nicht tolerieren. Punkt.

"Als Ikone der Klimabewegung taugt Thunberg nichts mehr", sagt Meinl-Reisinger.
Heribert Corn

STANDARD: Ein Schwerpunkt der Neos ist laut Eigendefinition der Klimaschutz. Die bekannteste Aktivistin der Welt steht gerade massiv in Kritik, weil sie propalästinensische Parolen skandiert. Ist Greta Thunberg als Ikone der Klimabewegung für Sie noch tragbar?

Meinl-Reisinger: Nein. Wir Neos haben den Beschluss gefasst, die Zusammenarbeit mit Fridays for Future bis auf weiteres zu beenden. Es gibt da offenbar eine sehr linke antikoloniale Einstellung, die das eigentliche Anliegen überlagert.

STANDARD: Ich hätte erwartet, dass Sie da als Chefliberale weniger streng sind mit der Jugend.

Meinl-Reisinger: Thunberg kann denken und sagen, was sie möchte, aber als Ikone der Klimabewegung taugt sie nichts mehr.

STANDARD: Sie sagen, es erschüttert Sie, welche Welle des Hasses sich gerade auf unseren Straßen und in den Schulen breitmacht. Wie kann die Politik da gegensteuern?

Meinl-Reisinger: Eine meiner neuen Kernforderungen ist ein verpflichtendes Schulfach "Leben in einer Demokratie" ab der Volksschule, in dem es um unseren Grundkonsens, also die offene Gesellschaft und Menschenrechte geht. Ich kann vielleicht nicht mehr das Wertesystem von 60-jährigen Zugewanderten ändern, aber auf junge Menschen einwirken. Es ist zwei vor zwölf, wenn sich Juden in Österreich nicht mehr sicher fühlen und in der Schule bedroht werden.

STANDARD: Man fragt sich, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Wen machen Sie für die Versäumnisse verantwortlich?

Meinl-Reisinger: In Österreich wurde es verabsäumt, deutlich zu formulieren, was von Zuwanderern eigentlich erwartet wird.

STANDARD: Was erwarten Sie denn?

Meinl-Reisinger: Ein Bekenntnis zu demokratischen Grundwerten. Niemand erwartet, dass alle Dirndl tragen und Brathuhn essen, aber wir müssen uns auf die plurale Gesellschaft und unsere Verfassung einigen können.

"Kinder sollten ab vier oder sogar drei Jahren verpflichtend in den Kindergarten", findet Neos-Chefin Meinl-Reisinger.
Heribert Corn

STANDARD: Teilen Sie den Befund, dass Parteien der Mitte und links der Mitte bei Fragen der Migration verblendet waren oder zumindest zu still, um nur ja kein Wasser auf die Mühlen der Rechten zu kippen?

Meinl-Reisinger: Das stimmt ganz sicher. Ich habe aber schon 2016 davor gewarnt, dass Menschen hier für den türkischen Präsidenten Erdoğan auf die Straße gehen, dabei auch kurdische Lokale verwüsten und damit für ein Regime demonstrieren, das die Demokratie mit Füßen tritt. Wenn Menschen das so super finden, sollen sie das in der Türkei tun.

STANDARD: Das klingt flott, aber faktisch gibt es doch keine Handhabe, Menschen abzuschieben, weil sie einen Autokraten feiern.

Meinl-Reisinger: Bei unangemeldeten Demonstrationen müsste eben auch die Polizei härter durchgreifen. Was uns aber vor allem fehlt, ist ein Grundrechtekatalog in der Verfassung – ähnlich wie in den USA. Dort kennt jeder seine Rechte, dort legt man einen Treueschwur ab, es wird dort mit großem Stolz die amerikanische Flagge gehisst. Bei uns passiert das alles immer nur halbherzig.

STANDARD: Ihre liberalen Gesinnungsgenossen von der deutschen FDP sind konkreter. Vizeparteichef Wolfgang Kubicki fordert Migrantenquoten von höchstens 25 Prozent für jedes Stadtviertel. Können Sie der Idee etwas abgewinnen?

Meinl-Reisinger: Ja, schon, aber wie soll man das durchsetzen, ist die Frage. Durch Zwangsumsiedelungen? In Wien gibt es keine Viertel, in denen der Staat das Gewaltmonopol verloren hat, aber die Situation ist problematisch. In einzelnen Bezirken liegt der Ausländeranteil bei fast 50 Prozent. Denkbar wäre ein Modell aus Schweden: Wenn in einer Schule zu viele Kinder eine nichtdeutsche Umgangssprache haben, werden sie dort mit Schulbussen in andere Viertel gebracht. Ob das hier möglich wäre, müsste man sehen.

STANDARD: Lange schon fordern Sie ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, damit Kinder in dieser Zeit auch Deutsch lernen können. In Wien sind die Neos für Kindergärten zuständig. Warum gibt es das nicht längst?

Meinl-Reisinger: Das ist in Verhandlungen, soweit ich weiß. Ich halte das für eine zentrale Forderung. Kinder sollten ab vier oder vielleicht sogar ab drei Jahren verpflichtend in den Kindergarten gehen. Bildung beginnt für alle Kinder im Kindergarten. Es ist außerdem nicht akzeptabel, dass Kinder, die hier geboren werden, nicht gut genug Deutsch sprechen, um später dem Unterricht zu folgen.

Beate Meinl-Reisinger rät dem Bundespräsidenten davon ab, Herbert Kickl nicht anzugeloben.
Heribert Corn

STANDARD: Die ÖVP bezeichnet FPÖ-Chef Herbert Kickl als Sicherheitsrisiko für das Land. Würde ein Kanzler Kickl aus Ihrer Sicht die liberale Demokratie bedrohen?

Meinl-Reisinger: Er ist jedenfalls ein Sicherheitsrisiko. Das hat man gesehen, als er als Innenminister den Verfassungsschutz ruiniert hat. Die Frage ist, was die FPÖ will ...

STANDARD: ... Kickl ist da recht unmissverständlich: ein System wie jenes von Viktor Orbán in Ungarn.

Meinl-Reisinger: Vor Orbán als illiberalem Posterboy kann ich nur warnen. Eine illiberale Demokratie ist keine Demokratie mehr.

STANDARD: Soll sich der Bundespräsident weigern, Kickl als Kanzler anzugeloben?

Meinl-Reisinger: Kickl sollte einmal aufgefordert werden, zu kooperieren. Was soll denn dieses dumme Gerede vom Volkskanzler? Er steht in Umfragen bei rund 30 Prozent, selbst wenn er bei 50 Prozent stehen würde – es gibt sehr, sehr viele Menschen, die keinen Kanzler Kickl wollen. In einer Demokratie geht es darum, zusammenzuarbeiten. Wo ist da der Wille vonseiten der FPÖ?

STANDARD: Meine Frage war, ob sich Van der Bellen Ihrer Ansicht nach weigern sollte, Kickl als Kanzler anzugeloben.

Meinl-Reisinger: Ich glaube nicht, dass das klug wäre. "Alle gegen Kickl" löst noch gar nichts. Das macht die FPÖ nur größer.

STANDARD: Ihr Vorgänger als Neos-Chef, Matthias Strolz, hat gerade via STANDARD erklärt, dass er in die Politik zurückkehren möchte. Welchen Job bieten Sie ihm denn an?

Meinl-Reisinger: Er hat seine Rückkehr ja noch nicht fixiert, sondern wie ein ganz authentischer Strolz gesagt, dass er wieder etwas in sich spürt. (lacht) Das hatte ich davor auch schon bemerkt.

STANDARD: Wenn Sie es auch spüren: Welche Rolle könnte er bei den Neos einnehmen?

Meinl-Reisinger: Das Thema Bildung treibt ihn um. Wir waren schon in Gesprächen über eine Neuauflage des Bildungsvolksbegehrens. Parteichef will er nicht werden, falls Sie mich schon wieder munter absägen wollen. (lacht)

STANDARD: Aktuell nicht, aber bei den Neos gibt es doch die goldene Regel, dass Politiker eine Funktion nicht wesentlich länger als zehn Jahre bekleiden sollen. Was haben Sie sich selbst für eine Grenze gesetzt?

Meinl-Reisinger: Gar keine.

(Katharina Mittelstaedt, 15.11.2023)