Vergangenes Jahr wurde auf der Documenta ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi wegen eindeutig antisemitischer Darstellungen abgehängt.
Vergangenes Jahr wurde auf der Documenta ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi wegen eindeutig antisemitischer Darstellungen abgehängt.
IMAGO/Hartenfelser

Kassel – Die Documenta vom letzten Jahr, als unter anderem ein riesiges Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi wegen eindeutig antisemitischer Darstellungen wieder abgehängt werden musste, steckt dem deutschen Kulturbetrieb noch immer in den Knochen. Jetzt hat das Kunstfestival die nächste Aufregung zu bewältigen.

Seit Donnerstag ist die gesamte sechsköpfige Findungskommission für die künstlerische Leitung der Weltkunstausstellung des Jahres 2027 zurückgetreten. Sie sollte eigentlich bis Anfang 2024 einen Kurator oder eine Kuratorin für die nächste Ausgabe vorschlagen.

Anfang der Woche stieg aber zuerst der indische Autor und Kurator Ranjit Hoskoté aus, nachdem Antisemitismus-Vorwürfe gegen ihn laut geworden waren. Sie beziehen sich auf seine Unterzeichnung einer Petition der von manchen als israelkritisch, von anderen – wie dem deutschen Staat – als israelfeindlich eingestuften Kampagne BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) im Jahr 2019. Darin heißt es etwa, Israel sei rassistisch. Als die Documenta eine distanzierende Stellungnahme forderte, zog Hoskoté sich zurück. Inzwischen empörte er sich über den Vorwurf; gab an, er habe eine jüdische Großtante.

Hamas-Terror als Auslöser

Freitags zuvor war schon Bracha Lichtenberg Ettinger ausgestiegen. Zwar nicht wegen Vorwürfen gegen ihre Person, sondern mit der Begründung, dass es ihr nach dem "Beginn des Hamas-Terrors in Israel" nicht möglich sei, "einen Beitrag zu der Arbeit der Findungskommission zu leisten", erklärte die Documenta. Auf die Situation in Israel rekurriert aber auch die Presseerklärung vom Donnerstag. Unter deren Eindruck und dem "des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland sowie der polarisierten Debatten darum" sei die Findungskommissionsarbeit "immer mehr unter Druck geraten".

Man will den Prozess nun neu angehen. So blamabel wie die beanstandeten Kunstwerke waren 2022 auch Umgang und Kommunikation der Verantwortlichen. Seit Mai gibt es mit Andreas Hoffmann einen neuen Geschäftsführer. Angesichts der damaligen Erfahrungen scheint es verständlich, heuer durch rasches Handeln Schaden abzuwenden. Die in ihrer Israel-Position geteilte Kunstszene wird es weiter nicht einfach machen. Was die neuen Probleme um die neben der Biennale wichtigste Kunstschau für den 2022 angedrohten Förderentzug durch den Bund bedeuten? Kulturstaatsministerin Claudia Roth will einen "glaubwürdigen Neustart".

Termin nachrangig

Zahlreiche Reaktionen und Kommentare wurden im Verlauf des Freitags geäußert. "Das grundsätzliche Problem ist, dass uns die Debattenkultur völlig aus den Händen geglitten ist", sagt etwa Nicole Deitelhoff mit Blick auf den Diskurs nach den Hamas-Angriffen auf Israel. Die Wissenschafterin stand an der Spitze jenes Gremiums, das nach der Documenta fifteen den Antisemitismuseklat aufarbeiten sollte. "Inzwischen kann man überhaupt nicht mehr miteinander reden. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt und führt in atemberaubender Geschwindigkeit dazu, dass man in eine Ecke gestellt wird." Deitelhoff findet die Lage der Documenta "verheerend". Es dürfte schon schwer werden, neue Kandidaten für die Findungskommission zu finden. Umso schwerer wird es wohl, Kuratoren zu finden, die sich in diesem Klima zutrauen, ein solches Mammutprojekt zu stemmen. Vor allem, wenn man die Altlast der Documenta fifteen mit sich herumträgt, die wegen antisemitischer Kunstwerke kurz davor stand, abgebrochen zu werden.

Inzwischen steht nicht einmal mehr das Datum der nächsten Documenta. Traditionell findet sie alle fünf Jahre statt. "Die Frage nach dem Zeitpunkt steht in der aktuellen Situation nicht an erster Stelle", sagte Geschäftsführer Hoffmann. "Es geht darum, die Documenta in eine gute Zukunft zu führen."

Deutsche Politiker sprachen am Freitag von einem "Scherbenhaufen". Kulturstaatsministerin Roth erklärte neben ihrer Neustart-Forderung, dass der Bund bereit sei, an der Neuaufstellung mitzuarbeiten. Sie begrüße es sehr, "dass sich die Documenta GmbH zunächst mit der eigenen, grundsätzlichen Neubestimmung und Strukturreform befasst, bevor die Planung für die Ausgabe 2027 beginnt".

Vertrauen zurückgewinnen

Die Gesellschafter der Documenta - das Land Hessen und die Stadt Kassel - wollen nach eigenen Worten das verloren gegangene Vertrauen wieder aufbauen. Erster Schritt sei, das "Betriebssystem" der Documenta neu zu starten, sagt Geschäftsführer Hoffmann. Derzeit werde die Organisationsstruktur unter die Lupe genommen. Mit Hilfe externer Experten schaue man sich Verantwortlichkeiten, Strukturen und Prozesse an. Erst, wenn dieser Prozess der Neuaufstellung abgeschlossen ist, könne man den nächsten Schritt angehen und den Findungsprozess neu beginnen.

"Der aktuelle Konflikt um die Documenta ist nicht losgelöst von der Situation der internationalen Kunstwelt zu sehen", analysiert indes der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel. "Die Debatten um Antisemitismus, Israel und den Nahostkonflikt spalten die Szene." Kunstschaffende in Deutschland stünden vor einem Dilemma. "Sie sind zum Teil abhängig vom internationalen Kunstmarkt und trauen sich deshalb nicht, eine differenzierte Position einzunehmen." Verbote können für Mendel allerdings auch nicht die Lösung sein. "Vielmehr muss ein Konsens mit den Leitungen der Kulturhäuser geschaffen werden, der sich jeglichen Formen von Ausschlüssen widersetzt." Entscheidungsträger wie Kuratoren, Museumsleitungen oder Mitglieder von Findungskommissionen müssten "gleichermaßen für alle Künstler*innen offen sein, unabhängig von ihrer Herkunft oder nationalen Zugehörigkeit". (wurm, APA, 17.11.2023)