Die Bühne von Martin Zehetgruber ist ein finsterer Spiegelsaal.
Land einer "ruchlosen und entarteten" Menschheit: Die Bühne von Martin Zehetgruber ist ein finsterer Spiegelsaal.
Matthias Horn

Nicht genug damit, dass die Menschheit korrupt und dumm ist: von Eigennutz getrieben, "ruchlos und entartet", wie es in den alt-ehrwürdigen Molière-Übersetzungen von vor hundert Jahren geheißen hat. Eine besonders berüchtigte Zweigstelle unterhält besagte Menschheit dieser Tage in Österreich.

Im Wiener Burgtheater, wo Martin Kušej jetzt Molières "Der Menschenfeind" inszeniert hat, ist besagtes Land ein finsterer Spiegelsaal. Menschliche Schatten lösen sich aus dem Dunkel (Bühne: Martin Zehetgruber), nachdem ein Pianist im Dinner-Jacket sehr ausdrucksstark Akkorde in den Flügel gehämmert hat. Ein Sarg wird im Kondukt hinausgetragen. Dunkel entsinnt man sich, dass Célimène (Mavie Hörbiger), die Angebetete des misanthropischen Alceste alias "Menschenfeindes", Witwe ist.

Eine fröhliche und mopsfidele notabene. Als solche schmeichelt sie reihum nichtswürdigen Laffen. Dabei führt Alceste (Itay Tiran), der Tugendredner, vor ihren Augen Klage wider die Verdorbenheit der Welt. In der "Bussi-Bussi-Welt" der Korruptionisten sei "der Schwindel zum System" erhoben worden.

Einen Bundesadler rupfen

Und während Tiran sich ein wenig selbstverliebt in seinen Tiraden ergeht, verwandelt sich das matte Glas wiederholt in einen Spiegel. Seht her, liebe Ösis, gemeint seid Ihr! Und es fällt schwer, zu glauben, Kušej, der aus Wien unverlängert und daher gekränkt scheidende Burgtheaterdirektor, habe mit den heimischen Ungeistern nicht noch ein Hühnchen rupfen wollen. Oder einen Bundesadler.

Alcestes einsamer Feldzug gegen die ringsum tief verwurzelte Heuchelei stößt auf allerlei Widerstände in menschlicher Gestalt. Kušej scheut keinesfalls die Karikatur. Des Titelhelden Antipode, ein Hobbydichter namens Oronte (Markus Meyer), verfasst Verse, die er aus seinem blondierten Haupt herausschüttelt: Gebrauch und Nutzanwendung liefert er gleich von vornherein mit.

Gesellschaftslöwen (Tilman Tuppy, Lukas Vogelsang) verpesten die Salonluft mit Klatsch und Tratsch. Was wird nicht alles in die pfiffige Hans-Magnus-Enzensberger-Übersetzung hineinmontiert! Der neue Jedermann ist Thema, das Do & Co, ein "Grüner", der jetzt bei den "Blauen" anheuert… Aus diesem Parlando törichter Verlautbarungen soll eine Art Sittenbild entstehen, ein Wimmelbild von Manfred Deix, verwässert und gestreckt für die Generation Z.

"Martin K."

Sich selbst hat Kušej in das Panoramabild hineingetupft, als "Martin K.". Von diesem heißt es bündig: "War eh nie da." Vor so viel Witz und Hang zur Selbstironie streckt man als Berichterstatter umgehend die Waffen.

"Findet jemand mich hier endlich amüsant?", fragt auch Alcest (Tiran). Man muss seine rhetorische Frage leider Gottes verneinen. Die bissig sein wollende Gesellschaftsanalyse, aufgehängt an halbseidenen Post-Türkisen, verträgt sich schlecht mit der paradoxen Liebesgeschichte Alcestes mit Célimène.

Letztere legt als Verwalterin ihrer diversen Liebesinteressen einen zähen Pragmatismus an den Tag. Worin jedoch ihre Faszination bestünde: dieses Surplus einer Tugendhaftigkeit, die sich vor anderen bedeckt hält, es bleibt schleierhaft. Zumal der allezeit gestrenge Alcest vor ihr auf die Knie fällt wie ein Schulbub.

Übung in Sachen Notgeilheit

Die politische Intrige gegen den Tugendhelden wird eher fahrig, wie nebenbei, entwickelt. Irgendwann möchte der Misanthrop ganz einfach "emigrieren". Er entsteigt mitsamt Rollköfferchen einem der Wasserlöcher, die den Bühnenboden fragmentieren. In flacher Ausführung kann man auf einem dieser Nassflecken auch probekuscheln: Die Arsinoé der Alexandra Henkel legt gemeinsam mit Tiran eine ebenso amüsante wie bedenkliche Übung in Sachen Notgeilheit hin.

Ansonsten bleibt der Regisseur viel zu sehr damit beschäftigt, den eigenen, monumentalen Bildideen hinterherzustelzen. Ein kleines Heer von Komparsinnen und Komparsen darf im Takt des Populismus wippen. Die Luster brennen. Die Republik tanzt, mehr oder minder volkstümlich bekleidet, pfeilgerade in den Abgrund. Das ist grob schematisch gedacht - und geradezu simplizistisch inszeniert. Politisch mag es fünf vor zwölf sein.

Für Alcest aber ist das Spiel jählings zu Ende. Eben noch sprach er "…den nächsten Schritt zu wagen". Da bricht er schon in den Boden ein. Es bleibt gerade noch genug Zeit, wieder eine Melodie auf dem Piano anzustimmen. Es ist die etwas fade dieser ganzen Inszenierung: Ich, Martin Kušej, habe es immer schon gewusst. Bin selbst Prophet im eigenen Land. Bin Euer Menschenfeind. Dafür setzte es viel freundlichen Applaus.

Postskriptum: Das angekündigte Dufttheater hinterließ olfaktorisch wenig bis gar keinen Eindruck. (Ronald Pohl, 19.11.2023)