Strafakten in einem deutschen Gerichtssaal.
In Deutschland gibt es zwar ein strafrechtliches Zitierverbot, aufgrund der Menschenrechtskonvention muss aber immer im Einzelfall abgewogen werden. In Österreich ist die Situation schon jetzt ähnlich.
IMAGO/Udo Gottschalk

Aus Sicht von Karoline Edtstadler würden manche die Diskussion "am liebsten sofort beenden". Auf X, vormals Twitter, forderte die Verfassungsministerin (ÖVP) vergangenen Sonntag einmal mehr ein Zitierverbot und kritisierte Fachleute, die ihren Vorschlag ablehnen. Medien sollen laut der Ministerin nicht mehr Akten aus laufenden Ermittlungen veröffentlichen, die Pressefreiheit "sei nicht absolut". In der Vergangenheit nannte Edtstadler immer wieder Deutschland als Vorbild. Dort ist ein Zitierverbot für Medien im Strafgesetz (StGB) verankert. Aber sollte sich Österreich wirklich an der deutschen Rechtslage orientieren?

Thomas Hoeren, Professor an der Universität Münster und einer der renommiertesten Medienrechtler Deutschlands, sieht das eher kritisch. Zum einen führe der Paragraf in Deutschland ein "Schattendasein", sagt Hoeren im STANDARD-Gespräch. Zum anderen unterscheide sich die aktuelle deutsche Rechtslage im Ergebnis kaum von der österreichischen. Grund dafür ist vor allem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die ein absolutes Zitierverbot ohnehin unzulässig mache.

Per Strafgesetz verboten

In Deutschland ist das Zitierverbot im Strafgesetzbuch geregelt (Paragraf 353d Z3 StGB). Demnach dürfen Journalistinnen und Journalisten nicht "ganz oder in wesentlichen Teilen" aus "amtlichen Dokumenten eines Strafverfahrens" zitieren. Der Bundesgerichtshof (BGH) legt den Begriff der "amtlichen Dokumente" aber sehr eng aus, erklärt Hoeren. Erlaubt wurde in der Vergangenheit etwa das Zitieren aus Tagebucheinträgen, die in Akten vorkommen. Übertragen ließe sich diese Rechtsprechung wohl auch auf Chats, worauf zuletzt Medienrechtler Nikolaus Forgó von der Universität Wien hinwies.

Dazu kommt, dass aufgrund der neueren Rechtsprechung des EGMR bei der Veröffentlichung von "amtlichen Dokumenten" ganz generell eine Güterabwägung stattfinden muss, sagt Hoeren. Liege ein überwiegendes öffentliches Interesse vor, dürfe trotz Verbots zitiert werden. Das stehe in Deutschland zwar nicht explizit im Gesetz, die Gerichte müssen aber Rücksicht darauf nehmen. "Das wird in der Rechtsprechung zunehmend eine Rolle spielen", sagt Hoeren. "Der BGH wird nie sagen, dass es bei amtlichen Dokumenten ein absolutes Zitierverbot gibt."

Je nach veröffentlichtem Dokument können die Gerichte laut Hoeren also zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Veröffentlichung eines amtlichen Dokumentes aus Ermittlungen über eine Vergewaltigung wäre demnach vom Zitierverbot erfasst, weil der Kernbereich der Persönlichkeitsrechte betroffen ist. Wenn es aber etwa darum gehe, dass ein Unternehmen mutmaßlich gegen Insolvenzstrafrecht verstoßen hat, komme die Abwägung wohl zu einem anderen Ergebnis.

Einzelfall entscheidend – wie in Österreich

"Es kommt immer auf den Einzelfall an", sagt Hoeren. Der Medienrechtler geht davon aus, dass sich aufgrund der neueren Rechtsprechung des EGMR in Deutschland eine Rechtsprechungslinie entwickeln wird, die klarstellt, wann eine Veröffentlichung erlaubt ist und wann nicht. Von einer expliziten gesetzlichen Klarstellung hält Hoeren wenig. "Da geht es um Einzelfälle, deshalb ist das ein Thema für die Rechtsprechung. Da muss man mit Augenmaß an das Thema herangehen."

Im Ergebnis unterscheidet sich die aktuelle Rechtslage in Deutschland damit kaum von jener in Österreich. Auch hierzulande müssen bei der Berichterstattung stets unterschiedliche Interessen abgewogen werden – etwa das öffentliche Interesse und die Pressefreiheit auf der einen Seite und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen auf der anderen Seite. Andernfalls drohen Journalistinnen und Journalisten schon jetzt Konsequenzen nach dem Mediengesetz.

"Schon aufgrund der derzeit geltenden Rechtslage muss eine Abwägung getroffen werden, ob die Veröffentlichung im überwiegenden öffentlichen Interesse ist", schrieb etwa Medienrechtsanwältin Maria Windhager auf X. "Dafür braucht es gar kein Zitierverbot!" Aus Sicht des österreichischen Medienrechtlers Hans Peter Lehofer sollte man, wenn überhaupt, in den bestehenden medienrechtlichen Regelungen nachschärfen. Ein neues strafgesetzliches Verbot, wie das, das Edtstadler vorschlägt, würde laut Lehofer nur "die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung von Journalist:innen erhöhen". (Jakob Pflügl, 20.11.2023)