Ein Leben ohne Wasser um ihn herum, das kann sich Nthophang Xani beim besten Willen nicht vorstellen. Der 37-Jährige, den alle nur "Tops" rufen, ist im Okavango-Delta Botswanas aufgewachsen, er hat früh gelernt, Fische zu fangen, Einbaumkanus zu fahren und frisches Flusswasser zu schätzen. "Sand und Gras, bessere Filter gibt es nicht", sagt der Guide, der im Abu Camp Gästen die Natur erklärt.

Am Linyanti-Fluss in Botswana haben Pontonboote vielfach die traditionellen Mokoro-Kanus ersetzt.
Am Linyanti-Fluss in Botswana haben Pontonboote vielfach die traditionellen Mokoro-Kanus ersetzt.
Wilderness/Felix Studios

Tops ist einer der wenigen Menschen, der in der etwa 20.000 Quadratkilometer großen Region aufgewachsen ist. Sie ist halb so groß wie die Schweiz, jedoch mit wenigen Tausend Menschen dürftig bevölkert. Die dünne Besiedlung im Nordwesten des Landes hat einen Grund: Das Okavango-Delta ist eines der größten Feuchtgebiete der Welt, eine kapriziöse Laune der Natur. Auf rund 1.700 Kilometern schwillt der Okavango zu einem Strom an, um in der Kalahariwüste im weltgrößten Binnendelta zu versickern.

In dieser Landschaft hat sich eine artenreiche Tierwelt erhalten, die sich nach dem Pegelstand des Wassers richtet und kaum vom Menschen beeinflusst wird. Damit das Delta für zukünftige Generationen erhalten bleibt, ist es seit 2011 Teil der grenzüberschreitenden Kavango-Sambesi Transfrontier Conservation Area, mit 520.000 Quadratkilometern (fast die Fläche Frankreichs) das zweitgrößte Naturschutzgebiet der Welt.

Viel Wasser, wenig Wasser

Tops lehnt an einem Jeep, hinter ihm grunzen Flusspferde in einer Lagune, sie brauchen das Wasser, um ihre sensible Haut von der Hitze abzukühlen. Das ist im Moment nicht so einfach. Ihr Tümpel hat sich während der Regenzeit im Jänner zwar etwas aufgefüllt, doch bis zum Mai wird er beinahe austrocknen und sich erst wieder zu einem See auffüllen, wenn die Flutwelle aus dem Hochland von Angola endlich die Ebene erreicht und das Land in eine Inselwunderwelt verwandelt.

So viel Wasser, so wenig Wasser. Wenige Gebiete auf der Welt kämpfen mit diesem Problem, dass es für einige Monate im Jahr Wasser im Überfluss gibt und in anderen die Trockenzeit zur Bedrohung wird. Lebensfeindlich ist diese Region, wenigstens für Menschen. Hier können sie sich auf nichts verlassen, außer auf die Unvorsehrbarkeit von Naturereignissen.

Das Duma Tau Camp liegt mitten im privaten Linyanti-Wildreservat.
Das Duma Tau Camp liegt mitten im privaten Linyanti-Wildreservat.
Wilderness

Tops besucht seine Familie regelmäßig im Dorf, "gar nicht weit weg", sagt er, "nur sechs Stunden" mit Jeep, Kanu und zu Fuß. In einer Stadt zu leben kann er sich nicht vorstellen. "Das Delta hat doch alles", sagt er – und zählt auf: "Mopaneholz für die Häuser, Leberwurstbäume für den Bootsbau, Schilfgras für die Dächer." Ach ja, und Tilapiafische zum Essen sowie die Wurzeln der Seerosen, die laut Tops hervorragend schmecken.

Auf der Morgensafari fährt er über weite Ebenen, auf denen hüfthohes Gras wächst und von Elefantenherden regelrecht abgeerntet wird. Leoparden und Löwen streunen durchs Unterholz, Impala-Antilopen stellen wachsam ihre Ohren auf. All das, erklärt Tops, wird im Mai und Juni knietief unter Wasser stehen. Ein spiegelglatter See erstreckt sich dann über mehrere Quadratkilometer. Man bemerkt diese ständige Anwesenheit von Feuchtigkeit: Die Fahrrillen sind schneeweiß und sandig, es ist, als würde sich der Jeep durch eine Nordseedüne kämpfen – nur dass nirgends ein Meer zu sehen ist.

Kalahari-Cruise

45 Minuten mit dem Land Rover entfernt, im Jao Camp, wartet Ipeleng Mollowakgotla auf Touristen aus der ganzen Welt. Der 42-Jährige ist das Gegenteil von Tops. Er spricht ruhig, beinahe leise, alles an ihm zeugt von Sorgfalt: der jede Woche rasierte Kopf, die ordentlich gegürtelte Hose. Er stellt sich als "Cruise" vor, so würden ihn alle seine Freunde nennen. Aufgewachsen ist er in einer Extremregion mit geringen Niederschlägen: in der Kalahariwüste im Süden des Landes.

Wasser gab es kaum, er lernte als Kind, auf die dicken Baobab-Bäume zu klettern, die in ihren Astlöchern Wasser speicherten, und daraus zu trinken. Seinen ersten Job bekam er mit Anfang 20 im Chobe-Nationalpark, wo er sich – Ironie des Schicksals – darauf spezialisierte, Touristen über den Linyanti-Fluss zu schippern und ihnen die Flusspferde zu zeigen. Seit 2007 arbeitet er im Okavango-Delta, kann gar nicht genug bekommen von Kanälen, Sümpfen und Lagunen. Tausendfaches Grün anstatt eintöniges Sandgelb.

Eine Aussichtsplattform im Duma Tau Camp.
Eine Aussichtsplattform im Duma Tau Camp.
Wilderness

Jeden Tag studiert er die Wettermeldungen aus Angola, auf einer App kontrolliert er, wie viele Milliliter Regen dort fallen. "Es wird ein gutes Jahr", sagt er. Nach einigen Dürren in den vergangenen zehn Jahren rechnet er nun mit einer kräftigen Flut.

Um sechs Uhr morgens fährt er am kommenden Tag mit dem Jeep los. Ein fernes Krähen ist zu hören, könnte auch das heisere Bellen eines Hundes sein. "Ein Hornrabe", sagt Cruise. "Das heißt, es wird heute regnen." Der Himmel ist zwar leicht bedeckt, doch keine dunklen Wolken türmen sich auf. Was weiß schon ein Vogel?

Cruise lenkt den Wagen zur Hunda-Insel. Eine Stunde lang geht es an Graswiesen und Antilopenherden entlang. Ebenholzbäume und Palmen spenden Schatten. Cruise scherzt über die "Daggaboys", die Dreckskerle, wie er die mit Schlamm bedeckten Büffel nennt. Sie suhlen sich im Morast, um ihre Haut zu schützen. Der Guide weist auf wilden Spargel, essbare Wurzeln und wilden Salbei hin. Letzterer übrigens ein Zeichen dafür, dass die Fläche regelmäßig geflutet wird. Früher haben die hier lebenden Stämme gewusst, dass sie an solchen Stellen lieber kein langsam wachsendes Korn pflanzen. Auf der Anhöhe, jener Hunda-Insel, hält er an, gießt einen Morgenkaffee aus der Thermoskanne in die Tasse und schaut in den Himmel. Die Sonne scheint noch.

Vier Stunden später jagt ein Schauer übers flache Land. Es regnet, zwar nicht in Strömen, aber doch genug, um den Boden weiter zu befeuchten, damit die Flut in der Erde versickern kann, wenn sie in einigen Wochen das Binnendelta erreicht. Der Hornrabe hatte recht. Cruise hat keine Sekunde an seiner Wettervorhersage gezweifelt.

Im Wegenetz

Am Nachmittag zeigt er seinen Gästen, wie sich die Menschen im Delta Jahrhunderte lang fortbewegt haben. Am Ufer eines Wasserlaufs liegt ein etwa vier Meter langes Kanu, ein sogenanntes Mokoro – allerdings eine Nachbildung aus Fiberglas. Darin können zwei Personen sitzen, während ein Steuermann am Ende aufrecht steht.

Die Gewässer sind flach, knapp einen Meter tief, die Passagiere sitzen quasi auf Höhe der Wasseroberfläche. Das Gefährt schwankt hin und her, Cruise gleicht geschickt hinten aus, doch richtiges Erholungsgefühl stellt sich nicht ein. Soll sich auch nicht, die Sinne sind geschärft für die Umwelt. Für die Schilfinseln, die wie Igel aus dem Gewässer aufragen, und die rotbraunen Letschwe-Antilopen, die bei Gefahr wegspringen.

Cruise achtet darauf, einen vorgetretenen Kanal zu benutzen. "Der Hippo-Highway", lacht er. Die Dickhäuter haben dieses Wegenetz ins Wasser geschaufelt, um schneller durchs Nass zu pflügen. Momentan leben sie nicht in diesem Gewässer, es ist bereits zu seicht geworden. Nach etwa 90 Minuten kehrt das Boot ans Ufer zurück. Eine Heidenanstrengung für Cruise, der das Kanu nur per Kraft seiner Oberarme gelenkt hat. "Sport ist für heute abgehakt", sagt er.

Elefanten queren

Etwa 40 Minuten mit dem Kleinflugzeug Richtung Norden befindet sich der Fluss Linyanti. Von oben erkennen Reisende die Ausmaße dieser außergewöhnlichen Landschaft: Wasserläufe mäandern durch Savannen, kilometerlange Schlangen, die Gebiete zerteilen. Bis sich die Gras- zu einer dichten Schilflandschaft wandelt und der Fluss als breites Band eine natürliche Grenze zieht. Das 1.200 Quadratkilometer große Areal um ihn herum befindet sich nördlich des Deltas, direkt an der Grenze zu Namibia, hier leben noch weniger Menschen.

Tapologo Gaothobogwe empfängt die Reisenden am Flugzeug. Der 41-jährige Guide arbeitet für das nahegelegene Duma Tau Camp und hat natürlich auch einen Spitznamen, er heißt Taps. Mit seinem Wagen fährt er durch einen Wald, hinter dessen Bäumen sich große Kudu-Antilopen verstecken und von dessen Ästen Paviane herunterstarren. Es riecht nach wildem Jasmin. Taps gelangt an einen breiten Schilfgürtel zwischen zwei bewaldeten Hügeln. Kilometerlang zieht er sich dahin. "Das war vor einigen Jahren noch Grasland", sagt Taps. "Dann hat das Wasser einen Weg gefunden." Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier früher Geparden jagten, heute warten Krokodile im Wasser auf ihre Beute.

Elefantenrüssel tauchen hier wie U-Boot-Periskope vor den Beobachtungsbooten auf.
Elefantenrüssel tauchen hier wie U-Boot-Periskope vor den Beobachtungsbooten auf.
Wilderness/Dana Allen

Der Linyanti-Fluss führt ganzjährig ordentlich Wasser und hat ein weitverzweigtes Kanalsystem geschaffen, in das Menschen nur schwer hineingelangen. Um das zu veranschaulichen, steigt Taps am Nachmittag in ein Motorboot und durchquert damit das scheinbar undurchdringliche Schilfdickicht. Das Wasser ist in diesem Schutzgebiet der Herrscher über die Natur. Das sieht man eindrucksvoll gegen 16 Uhr, gar nicht weit weg vom Duma Tau Camp. Vom gegenüberliegenden Ufer nähern sich dunkle Buckel. Taps guckt vom Steuer auf: "Gleich überqueren Elefanten den Fluss." Tatsächlich sammelt sich einige Minuten später eine Herde Dickhäuter am Ufer, wie auf Kommando steigen sie ins Wasser, die Matriarchin voran, am Ende die kräftigen Kühe, in der Mitte die Kälber. "Damit die Krokodile die Jungtiere nicht fassen können", erklärt Taps.

Rette sich, wer kann

Rüssel tauchen aus dem Wasser auf, wie U-Boot-Teleskope, nur dass diese Sinnesorgane zum Atmen und nicht zum Sehen wichtig sind. Kraftvoll schwimmen die Riesen voran, das Boot bleibt auf gehörigem Abstand, nach knapp 60 Metern hat die Herde das andere Ufer erreicht. Trompetensignale erklingen. Nachzügler auf der anderen Seite werden nun aufgefordert, sich bitte zu beeilen. Das nächste Dickicht will abgeholzt werden.

Bei der Bootsfahrt muss auch auf Flusspferde geachtet werden.
Bei der Bootsfahrt muss auch auf Flusspferde geachtet werden.
IMAGO/imageBROKER/Lacz Gerard

Als sich die Tiere zurückgezogen haben, kann Taps seine Michael-Schumacher-Fantasie ausleben. Er beschleunigt das Boot auf 50 Kilometer pro Stunde, kurvt elegant an Büschen und Inseln vorbei, bremst ab, wenn sich Flusspferdrücken zeigen. Seerosen bilden organische Flokatiteppiche, zehennagelgroße Frösche kleben an ihren Stengeln. Hätte man ohne Taps nie entdeckt.

Nachts kommt die Erkenntnis: Was das Wasser an Leben gibt, kann es in Windeseile wieder nehmen. Es donnert, kracht und schüttet. Die Himmelsschleusen öffnen sich, Regen schießt auf die Erde, als würde er mit Hochdruck aus einem riesigen Schlauch kommen. Blitze erhellen die Zelte des Duma Tau Camps, es ist lauter als vor den Musikboxen des Berghain.

Der Pegel steigt, für die Tiere heißt es: Rette sich, wer kann. Hier gilt nicht mehr die Angst zu verdursten, sondern zu ertrinken. Hat sich die Natur im Delta beinahe zahm gezeigt, lässt sie im Schutzgebiet ordentlich die Muskeln spielen. Wasser ist Lebensader und vernichtende Kraft. Es gibt kein besseres Wort als dieses, um das Endzeitgefühl zu beschreiben: Naturgewalt. (Ulf Lippitz, 31.12.2023)