Trotz starker Schmelze bietet das Gletschersystem des Schweizer Monte-Rosa-Massivs noch einen majestätischen Anblick. Hier streckt sich der Gornergletscher von der über 4600 Meter hohen Dufourspitze talwärts Richtung Zermatt. Bis vor wenigen Jahren war er noch der zweitgrößte Gletscher der Alpen.

Doch nun hat er am Zusammenfluss mit dem benachbarten Grenzgletscher die Verbindung zu seinem unteren Teil verloren, der nun hauptsächlich vom Grenzgletscher gespeist wird. Je nachdem, wie man es sehen will, ist der Gorner entweder in zwei Teile zerfallen oder durch die Abnabelung plötzlich viel kleiner geworden.

Menschen wandern mit Rucksäcken und Wanderstöcken auf einem Gletscher
Francesco Sauro und sein Team auf dem Gorner Gletscher in der Schweiz. Er schmilzt wie viele andere Gletscher in den Alpen immer schneller.
Rolex/Alessio Romeo

Unterirdische Flüsse

Damit ergibt sich eine interessante Situation für Gletscherforscher. Denn das Schmelzwasser des oberen Gorner-Rests rinnt, aufgeheizt von der Sonne und heißen Steinen, die es umfließt, unter den darunterliegenden Hauptgletscher, mit dem er früher verbunden war. Dort entstehen unterirdische Flüsse und Höhlensysteme im Eis. Der Gletscher schmilzt also von unten – mit rasender Geschwindigkeit.

Dieses Phänomen wird von einem Geologen untersucht, der besonders viel Erfahrung mit der Erforschung von Höhlensystemen hat: Francesco Sauro. Der Italiener, der bis vor kurzem an der Universität Bologna, nun aber für die europäische Raumfahrtbehörde Esa tätig ist, hat einen großen Teil seines Lebens in unterirdischen Felsformationen verbracht.

Er hat die heißen, von riesigen Gipskristallen geprägten – und nur mit gekühlten Anzügen und Atemgeräten zugänglichen – Höhlen von Naica in Mexiko untersucht, die Welt des subterranen Saban-Flusses mit dessen erstaunlichem Ökosystem auf den Philippinen erforscht und unterirdische Eisformationen in Grönland und Patagonien erkundet. Insgesamt hat der Höhlenforscher, der in seinem kürzlich erschienenen Buch Der verborgene Kontinent (Knesebeck, 2023) von seinen Expeditionen erzählt, über 100 Kilometer neuer Höhlen überall auf der Welt erforscht und kartiert.

Eishöhle, Mann in blauer Jacke, Drohne fliegt in Höhle
Der Geologe Francesco Sauro hat viel Zeit seines Lebens in unterirdischen Felsformationen verbracht. Hier erkundet er den Gornergletscher in der Schweiz mithilfe einer kollisionsfesten Drohne.
Rolex/Alessio Romeo

Wunderwelt aus purem Eis

Der Grundstein für Sauros Faszination für Höhlen wurde bereits in seiner Kindheit gelegt, als er mit seinem Vater Höhlen in den italienschen Alpen erkundete. In der Geologie fand er einen Forschungsbereich, in dem er sein Faible zum Beruf machen konnte. Mit der Erforschung des Gornergletschers kehrte der Höhlenforscher in die Alpen zurück, um eine besonders gefährliche Untersuchung zu wagen.

"Normalerweise besucht man Eisformationen im Herbst oder Winter, wenn es kalt ist, die Wasserströme versiegt sind und das Eis stabiler ist", betont Sauro. "Im Sommer dort hineinzugehen ist wirklich angsteinflößend. Man erkennt, welche unglaublichen Wassermengen hier durchfließen. Es ist kein Ort zum Verharren." Es besteht etwa die Gefahr, dass gestautes Wasser plötzlich durchbricht und die Höhle auffüllt.

Seit 2018 besuchte Sauro mit seinem Team mehrmals das Innere des Gletschers. Bei der letzten Erkundung stiegen die Forschenden insgesamt 120 Höhenmeter durch die Höhlen am Gletschergrund hinab – bis sie einen See vorfanden, der ein Weiterkommen unmöglich machte. Während die Gletscheroberfläche von Fels und Geröll bedeckt ist, wanderten die Höhlenforscher unterhalb durch eine Wunderwelt aus purem Eis.

Menschen am Gletscher vor Laptop und Drohne
Aus den Aufnahmen der Drohnen erstellten Sauro (Mitte) und sein Team genaue 3D-Modelle der Höhlen im Gornergletscher.
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Reißendes Wasser

"Man sieht die verschiedenen Eisschichten an den Wänden. Wo das Eis nicht zu dick ist, dringt Licht durch, und es schimmert blau", beschreibt Sauro. Die vergleichsweise warme Luft schmilzt kuppelartige Formen in die Höhlendecken. Am felsigen Boden der Höhlen fließt dagegen vielerorts reißendes Wasser – ein Sturz kann hier das Leben kosten. Angesichts der Gefahren versuchten die Forschenden schnell zu sein. Sauro: "Wir sind einfach nur gelaufen, haben unsere Instrumente positioniert und haben die Höhle schnellstmöglich wieder verlassen."

Die Forschenden nutzten unter anderem Flugdrohnen mit Laserscannern, die die Datengrundlage für 3D-Modelle der Höhlen lieferten. Sensoren, die im Wasser positioniert wurden, maßen neben Temperatur und Druck auch den Salzgehalt. Durch die Zugabe von Salz weiter oben in der Strömung kann aufgrund der Messdaten das Wasservolumen errechnet werden. Aus Temperaturdaten – auch von Thermalkameras, die lokale Unterschiede erkennbar machen – können Rückschlüsse auf den Energietransfer von Luft und Wasser auf das Gletschereis getroffen werden. Alle Daten tragen zur Entwicklung eines neuartigen Gletschermodells bei, das auch die Vorgänge unterhalb und im Inneren des Gletschers abbilden kann.

Für die ausgehöhlte Gletscherzunge bedeutet der Eintritt der riesigen Mengen an Wasser, das die Sonne auf Temperaturen von bis zu sieben Grad aufwärmt, eine enorme Beschleunigung der Schmelze. "Der kontinuierliche Wasserstrom erzeugt eine hohe Instabilität im Gletscher. Es bedeutet, dass er viel schneller verschwinden könnte, als wir glauben", bedauert Sauro. Die Forschungen sind auch deshalb interessant, weil das Eis hier für Alpengletscher sehr kalt ist. Im Inneren kann es minus fünf Grad Celsius erreichen. Die Wissenschafter wollen herausfinden, ob mit dem Wärmeeintrag durch das Schmelzwasser diese besondere Eigenschaft verlorengehen kann.

Schmelze in Grönland

Die Modellierung des Energietransfers soll sich aber nicht nur für das Eis des Monte-Rosa-Massivs, sondern – in Kombination mit lokalen Daten – für alle möglichen Gletscher als nützlich erweisen. Das gilt nicht nur für das schwindende Eis der Alpen, sondern etwa auch für Grönland. "Dort ist die Situation etwas anders. Das Wasser sammelt sich an der Gletscheroberfläche und sickert dann durch das Eis hinab", erklärt Sauro. "Trotz sehr niedriger Temperaturen können sich richtige Seen unterhalb des Eises bilden, die dann das Verhalten des Gletschers beeinflussen."

2024 wollen Sauro und Team noch einmal in das Innere des Gornergletschers vordringen. Die Forschenden erwarten, dass inzwischen ein Teil der Eishöhlen kollabiert ist. Die entstandenen Modellierungen sollen noch validiert werden, bevor sie auch für Voraussagen bei anderen Gletschern genutzt werden. Die Erkenntnisse könnten auch helfen, Gefahren in den Bergen, die durch die rapide Gletscherschmelze entstehen, besser abzuschätzen. Sauro erinnert an den katastrophalen Gletscherabbruch 2022 an der Marmolata in den Südtiroler Dolomiten, bei dem elf Bergsteiger starben: "Das Unglück steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit Schmelzwasser, das sich in oder unterhalb des Gletschers angesammelt hat und zu einem Auslöser des Eissturzes wurde." (Alois Pumhösel, 1.12.2023)