Tanz Choreografie Posthumanismus
Gipfelkonferenz der selbstverliebten Egos: Liquid Loft hinterlassen in "Lost in a freaky evolution" Schlieren auf der glatten Oberfläche des Kommerzes.
Michael Loizenbauer

Kaum zu glauben: Was noch vor zwei Jahrzehnten als ultimativ progressives Computernetz-Mirakel erschien, zeigt heute immer deutlicher seine grottenkonservative Fratze. In unserer desillusionierenden Gegenwart platzt die Scheinwelt des Hurra-Digitalismus von gestern wie in Zeitlupe auf.

Die renommierte Wiener Company Liquid Loft unter ihrem Choreografen Chris Haring beschäftigt sich bereits seit ihrer Gründung 2005 mit den Zugriffen des digitalen Monsters auf den menschlichen Körper. Wohin sich Liquid Lofts konsequent vorangetriebenes künstlerisches Projekt aktuell bewegt, macht die Uraufführung von Lost in freaky evolution, dem zweiten Teil einer im Sommer bei Impulstanz gestarteten Serie mit dem Titel "L.I.F.E.", gerade im Tanzquartier Wien deutlich.

Bei Lost in freaky evolution führen fünf Figuren in ihrer magischen Spiegelwelt vor, wie geil sich unsere digitale Selbstkolonisierung anfühlt: als Rausch des Narzissmus, als Tanz des selbstverliebten Egos, als unablässiges Plappern und Auf- und Abtauchen im Schillern kalter Bildschirme. Mit ironischer Offenherzigkeit wird hier jenes Psychodrama ausgebreitet, das die körperfeindlichen Ideologien des Trans- und (technologischen) Posthumanismus als unendlichen Spaß abfeiern.

Toxische soziale Medien

Das globale Hineinfallen auf die Verlockungen der toxischen "sozialen" Medien kommt bunt und paillettenglitzernd daher. Eine Unheimlichkeit, die grenzenlose Freiheit vorgaukelt. Liquid Loft spielt dieses Unheimliche verzerrt in Spiegeltrichtern vor, die erst einmal spektakulär aussehen, in ihren variantenreichen Wiederholungen aber zunehmend makaber anmuten. Lost in freaky evolution ist zwar ein – gezieltes – Recycling von Elementen aus früheren Arbeiten, doch in diesem neuen Stück sind die Dramaturgie, das Timing, der Einsatz von Live-Projektionen unvergleichlich meisterhaft umgesetzt.

Sicherer als je zuvor bewegen sich Hannah Timbrell, Anna Maria Nowak, Luke Baio, Dong Uk Kim und Dante Murillo in ihrer Halluzinationsblase. Darin schmeichelt und knistert Andreas Bergers Sound. Von diesem Zauber wird das Publikum sowohl eingelullt als auch für das Unfassbare sensibilisiert: dass wir allesamt Gefangene und Sklaven ausbeuterischer Technik-Freaks geworden sind, die mit ihrer trickreichen Übernahme unserer Evolution Milliarden machen.

Lost in freaky evolution perlt auf der Oberfläche dieses Triumphs und hinterlässt darauf ein paar dystopische Schlieren. Mehr macht keinen Sinn. Denn wer hat schon auf die zahllosen Warnungen vor dem Technikfetisch seit, sagen wir, Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey von 1968 gehört? Richtig, die Technik-Freaks. Ihnen ist es gelungen, die einschlägige Aufklärung in ein beinhart optimistisches Geschäftsmodell umzupolen. Angesichts dieses Liquid-Loft-Stücks dämmert uns das alles einmal mehr. Aber solcher Dämmer ist halt immer noch kein Durchblick. (Helmut Ploebst, 1.12.2023)