Es ist ein kühler Novemberabend in der kanadischen Stadt Calgary. Um kurz vor 17 Uhr dämmert es in den Wintermonaten bereits. Fünf Frauen gehen in Richtung des Veranstaltungsbereichs der Mount Royal University, dem Wyckham House. Sie tragen bunte lange Röcke mit dicken Mänteln darüber, manche mit Fell, andere mit zackigen Mustern am Saum. Ihre dunklen Haare haben sie zu zwei Zöpfen zusammengeflochten.

Die Frauen sind nicht die einzigen auf dem Weg ins Wyckham House. Bald wird dort zum 27. Mal eine Veranstaltung stattfinden, bei der vermehrt indigene Menschen zusammenkommen, um ihre Kultur durch gemeinsames Singen und Tanzen hochleben zu lassen: ein "Pow Wow". "Der moderne Pow Wow kommt von allmöglichen alten, traditionellen Tänzen. Es ist eine Art Fusion verschiedenster Tänze", sagt Cory Cardinal. Er ist Cultural and Indigenous Inclusion Programmer an der Mount Royal University (MRU).

Mann steht vor Landkarte
Cory Cardinal in seinem Büro
Nicola Höpfl

Kulturraub und verlorener Bezug zur Familie

Betritt man das Wyckham House über den Haupteingang, hängt links an der Wand eine schwarz-weiße Tipiplane von einem Geländer herab. Der Geruch von verbranntem Salbei liegt in der Luft. Vor der Plane wurden Fahnenmäste mit verschiedensten Fahnen, sowie ein Tisch für den Kommentator des Pow Wows aufgestellt. In der Mitte ist Platz für die Tänzer:innen, rundherum sitzen Trommler:innen im Kreis. Dahinter stehen Stühle für Zuschauer:innen. "Ich bin hier, weil ich indigen bin und noch nie bei einem Pow Wow war", sagt eine Soziologiestudentin.

Tipiplane ist in einer Halle aufgespannt
Pow Wow Set-Up
Nicola Höpfl

Mit dem Indian Act wurde den indigenen Menschen in Kanada von 1884 bis 1951 verboten, ihre traditionellen Tänze und Tanzzeremonien auszuüben. Viele Indigene wurden außerdem ihren Familien im jungen Alter entrissen und in Residential Schools gebracht. Die Schulen waren meist nach Geschlechtern geteilt, weshalb die Kinder nicht nur von ihren Eltern sondern teilweise auch von ihren Geschwistern getrennt wurden. Durch die Verbote und die Trennung von der Familie verloren viele Natives den Bezug zu ihrer Kultur, den manche bis heute kaum bis gar nicht wieder aufbauen können.

Residential Schools wurden von christlichen Kirchen und der kanadischen Regierung gegründet, um indigene Jugendliche zu erziehen, zu bekehren und sie in die kanadische Gesellschaft zu "integrieren". Schätzungsweise besuchten 150.000 Kinder und Jugendliche Residential Schools. Aufgrund von Überfüllung der Einrichtungen, Unterernährung, Unfällen, Missbrauch und vor allem Krankheiten, wie Tuberkulose, überlebten viele der Kinder die Residential Schools nicht. Laut dem ehemaligen Vorsitzenden der Truth and Reconciliation Commission Murray Sinclair starben mindestens 6.000 der Natives durch das Residential School System. Die Dunkelziffer ist vermutlich um ein vielfaches höher. Die letzte Residential School wurde 1996 geschlossen.

Auch Cory Cardinals Eltern besuchten jeweils eine Residential School, wo sie Traumatisierendes erlebten. "Mein Vater wusste, dass er eine kleine Schwester hatte, als er zur Schule ging. Er sah sie und hat durch den Zaun mit ihr gesprochen und ihre Hand durch den Zaun berührt. Und dann ist sie plötzlich verschwunden." Cardinals Familie glaubt, dass die Schwester Essen gestohlen hatte. Daraufhin hätte man sie gezwungen eine Leiter hochzuklettern. Sie sei gefallen und mit dem Kopf am Boden aufgeschlagen. Vermutlich wurde sie irgendwo bei der Residential School begraben.

Vererbtes Trauma und fehlende Erziehungskompetenzen

Bei einem Pow Wow ist es neben den Tänzen auch üblich, dass Souvenirs angeboten werden. Die Tische, auf denen die Studierenden der MRU normalerweise essen, wurden zu Ständen umfunktioniert. Auf bunten Tüchern liegen selbstgemachte Perlenketten, Haarbänder oder Ohrringe. An einer Kleiderstange hängen traditionelle Gewänder mit Fransen, Federn oder Pelz. Auch Cowboyhüte oder Mokassins kann man erwerben. "Die Ohrringe kosten 50 Dollar. Das ist zwar ziemlich teuer, aber man unterstützt damit indigene Menschen", sagt eine Studentin und deutet auf selbstgemachte Creolen, die mit weißen, roten und grünen Perlen versehen sind.

Sände, bei denen Schmuck und andere Gegenstände angeboten werden
Die Esstische der Universität wurden zum Verkauf von Souvenirs zu Ständen umfunktioniert.
Nicola Höpfl

Laut dem Canadian Poverty Institute lebt jede vierte indigene Person in Kanada in Armut, was die Natives zur am stärksten betroffenen Gruppe macht. Die Traumata, die die Natives durch die Residential Schools mit sich tragen, werden über Generationen vererbt. "In den Reservaten herrscht Überbevölkerung, sodass drei Familien in einem Haus leben. In einem alten, heruntergekommenen Haus. Also alles in allem ist die Situation nicht gut", sagt Cardinal. Die verheerende Situation in den Reservaten sorge dafür, dass immer noch zahlreiche indigene Kinder von ihren Eltern getrennt werden. Mehr als 50 Prozent der Kinder in kanadischen Pflegeheimen sind indigen. Dabei sind nur um die sieben Prozent aller kanadischen Kinder Indigene.

"Unsere Eltern haben nie gelernt, wie gesunde Erziehung funktioniert", sagt Cardinal. Die Kinder würden den Eltern von Sozialarbeiter:innen weggenommen und an weiße Menschen übergeben werden, die für die Betreuung der Kinder Geld erhalten. Obwohl es deutlich sinnvoller wäre, die indigenen Familien direkt finanziell zu unterstützen. Laut Cardinal würden Missbrauchsfälle weniger in der eigenen Familie vorkommen, sondern viel eher in den Kinderheimen und durch Pflegeeltern. "Und dann werden sie mit 18 auf die Straße gesetzt. Keine Lebenskompetenzen, keine Erziehungskompetenzen, keine Kenntnis über ihre Familie. Am Ende werden sie Süchtige, die die Gefängnisse füllen", so der Cultural and Indigenous Inclusion Programmer.

Keine Entschädigung und Verstöße gegen Verträge

Die Trommler beginnen auf ihre Instrumente zu schlagen. Tänzer begeben sich in die Mitte der Tanzfläche. Die bunten Fransen, die an der Kleidung befestigt sind und der Federschmuck schwingen bei den rhythmischen Bewegungen mit. Der Kommentator kündigt an, welcher Stamm als nächstes performen wird, und klärt die Besucher:innen über ihre Kultur auf. "Wenn wir singen, singen wir in der Sprache von Mutter Natur, das ist der Grund, warum wir singen, wie wir singen. Es geht darum, das Gefühl der Natur zu vermitteln", sagt er.

Die Teilnehmer*innen des Pow Wows tanzen traditionelle Tänze begleitet von Gesang und Trommeln
Nicola Höpfl

Cory selbst lernte die traditionellen Bräuche seiner Kultur durch seinen Onkel kennen. "Ich habe lange gebraucht, um alles zu verstehen. Und ich weiß immer noch nicht alles", sagt er. Sein Vater habe wenig Bezug zu den Traditionen des sogenannten Plains Cree Tribes, von dem er abstammt. Über seine Vergangenheit spricht der Vater nur selten und er habe sich nie wirklich von dem Trauma, das er erlebt hat, erholt. Cardinals Vater bekam nie eine Entschädigung für das Leid, das ihm in der Residential School angetan wurde. Man habe das Dokument, welches seinen Aufenthalt bestätigen sollte, verloren, so die zuständige Institution.

Damals wie heute würden die Verträge (genannt Treaties), welche die indigenen Menschen mit der kanadischen Regierung geschlossen haben, gebrochen, so Cardinal. "Wir hatten eine Ranch. Die wurde einfach weggewalzt. Ich habe versucht dagegen anzukämpfen und das zu stoppen, aber sie haben das Land meiner Familie für eine Straße genommen." Die Straße wurde auf dem Gebiet der Tsuu T'ina gebaut. 69 Prozent der Indigenen stimmten für einen Bau. Die Tsuu T'ina erklären in einem Statement, dass man den Deal für eine ökonomisch bessere Zukunft einging.

Das Gebiet der Tsuu T'ina und vier anderer First Nations unterliegt dem "Treaty 7", welches 1877 unterzeichnet wurde. Bei den Verhandlungen gab es teilweise Übersetzungsprobleme und am Ende Diskrepanzen zwischen mündlichen Vereinbarungen und dem schriftlichen Vertrag. Hätten die Indigenen damals gewusst, dass sie viele ihrer Rechte mit dem Unterschreiben des Treaty 7 aufgeben, hätten sie niemals unterzeichnet, so Cardinal. Er führt aus, man hätte den Indigenen versprochen, das Land das ihnen überlassen wurde, nicht zu berühren. Am Ende fügte man eine Ausnahme für Straßen hinzu. Er findet, die Regierung habe die Ursprünglichen Vereinbarungen in seinem Fall gebrochen. Hier kommt es darauf an, wie man den Vertrag auslegt. Fakt ist aber, dass es laufend Fälle gibt, in denen Treaties gebrochen werden und der oberste Gerichtshof im Sinne der Indigenen urteilt.

Der Ausweg ist Bildung

In einem durch Säulen etwas abgeschirmten Bereich wurden Tische zu langen Reihen zusammengeschoben. Darauf stehen Krüge mit Wasser und verschiedenen Säften. Daneben stapeln sich Teller. Weißbrotscheiben mit Wurst oder Käse liegen auf Tablets bereit. Am Ende der Veranstaltung gab es hier die Möglichkeit sich beim Essen auszutauschen. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass hier auch Menschen herkommen, die nicht indigen sind", sagt eine Besucherin des Pow Wows. "Ich finde es sehr schön und wichtig, dass weiße Menschen und Leute, die keine Natives sind, sich mit unserer Kultur beschäftigen." Der Eintritt und die Verpflegung sind frei. Man freue sich über alle Besucher:innen, die an der indigenen Kultur interessiert sind.

"Ich denke, dass Bildung eine große Rolle spielt. Denn es gibt immer noch eine unverhältnismäßig hohe Ignoranz. Man kann Universitätsprofessor sein und immer noch unwissend sein und Menschen auf eine schreckliche Weise behandeln", so Cardinal. "Ich habe jede Woche Studierende, die sich darüber beschweren, wie sie an der Universität behandelt werden. Und es ist nicht nur hier so, sondern an jeder Universität und an jedem Arbeitsplatz herrscht Rassismus."

Oft seien die einzigen Indigenen, die wahrgenommen werden, Überlebende der Residential Schools, die auf der Straße leben und drogenabhängig sind. Daher würden auch viele Menschen ein schlechtes Bild von den Natives haben. "Viele Personen verstehen die Geschichte der indigenen Menschen nicht", sagt Cardinal. "Sie haben nie gelernt, was die Geschichte der Menschen auf der Straße und was ihnen angetan wurde."

Die Regierung habe keinen Grund sich um indigene Menschen zu kümmern, da es nur Geld kosten würde. Delay, deny, distract – also verzögern, leugnen, ablenken, das sei es, was die Regierung mache. Premier Minister Justin Trudeau habe sauberes Wasser für jedes Reservat versprochen. Doch geschehen wäre nichts. Die Regierung würde es hinauszögern, dann behaupten, man könne nichts machen, und am Ende versuche man davon abzulenken, sagt Cardinal.

Das Einzige, was eine Veränderung bewirken könne, sei Bildung. Cory Cardinal hofft, dass es endlich möglich werden wird, die Bildungslücke zu schließen. Dass indigene Kinder die Möglichkeit bekommen, gute Schulen zu besuchen, auch wenn sie in einem Reservat aufwachsen. Und dass nicht-indigene Menschen wiederum besser über die Geschichte Kanadas und die der Natives aufgeklärt werden, um mehr Verständnis zu schaffen. "Wir müssen voneinander lernen und miteinander teilen. Das wird nicht nur den indigenen Menschen helfen." (Nicola Höpfl, 7.12.2023)