Im Jahr 2015 registrierten Fachleute vom Catalina Sky Survey in Arizona ein bis dahin unbekanntes Stück Weltraumschrott in der Erdumlaufbahn. Bahnuntersuchungen ergaben eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Objekt mit der Bezeichnung WE0913A Anfang März 2022 auf der Rückseite des Mondes einschlagen sollte. Zunächst hielt man es für die Reste einer Falcon-9-Raketenstufe des US-Unternehmens Space X. Die Rakete war 2015 vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral gestartet und hatte das Deep Space Climate Observatory, einen Erdbeobachtungssatelliten, ins All gebracht.

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Die Rückseite des Mondes mit der Erde im Hintergrund, aufgenommen vom Orbiter der chinesischen Mondsonde Chang'e-5 T1.
Foto: Chinese National Space Agency and Chinese Academy of Sciences

Wiedereintrittstest

Etwa zwei Wochen vor dem errechneten Crashtermin verdichteten sich allerdings die Hinweise, dass man es nicht mit einem Space-X-Trümmerteil zu tun hatte, sondern mit einem Chang'e-T1-Booster einer Langer-Marsch-3C-Rakete. Die Raketenstufe war Teil der chinesischen Mondprogramms, bei dem auch Mondgestein zur Erde gebracht werden sollte. Die Testmission Chang'e 5-T1 startete am 23. Oktober 2014, umflog den Mond und kehrte zur Erde zurück. Die Hauptmission bestand in einem Test für den Wiedereintritt einer vom Mond kommenden Landekapsel und die gezielte Landung.

Chinesische Beamte wollten dieser Interpretation der Bahndaten für WE0913A nicht zustimmen. Die fragliche Rakete sei in Wahrheit vor Jahren in der Erdatmosphäre verglüht, hieß es. Als das Objekt am 4. März 2022 tatsächlich in der Mondoberfläche einschlug, erlebten die Beobachter eine Überraschung: Die Raketenstufe schlug nicht einen Krater sondern zwei, die einander ein Stück weit überlappen, wie Aufnahmen des Lunar Reconnaissance Orbiters (LRO) der Nasa vom 25. Mai zeigen.

Gute Übereinstimmung

Der an der breitesten Stelle 28 Meter große Doppelkrater im riesigen Hertzsprung-Krater am Äquator der Mondrückseite passt eigentlich nicht zu der Struktur, die der Einschlag einer chinesischen Langer-Marsch-3C-Rakete verursachen sollte. Überhaupt wäre ein Zwillingskrater nach dem Impakt eines ausgebrannten Boosters ein absolutes Novum: Laut der Arizona State University seien schon mindestens 47 Nasa-Raketenkörper auf den Mond gestürzt, aber kein anderer Einschlag hat einen Doppelkrater verursacht.

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Der Lunar Reconnaissance Orbiter der Nasa schoss einige Wochen nach dem Einschlag dieses Aufnahme des neuen Zwillingskraters.
Foto: NASA/GSFC/Arizona State University

Nun untermauert eine neue Untersuchung die Identität des Trümmerteils. Ein Team von der University of Arizona hat sich die verfügbaren Daten zur Flugbahn von WE0913A noch einmal genauer angesehen. Hauptaugenmerk legten sie dabei auf das von der Oberfläche des Objekts reflektierte Licht und darauf, wie es sich kurz vor dem Einschlag verändert hat. Die Rückschlüsse, die das Team um Tanner Campbell aus ihren Analysen zogen und nun im "Planetary Science Journal" veröffentlicht haben, weisen auf ein taumelndes Objekt, das auch von den Dimensionen her weitgehend mit dem Chang'e-T1-Booster übereinstimmt. Und es befand sich auf exakt jener Flugbahn, auf der man den Chang'e-T1-Booster erwarten würde.

Rätselhaftes Taumeln

Für die Forschenden ist damit weitgehend klar, dass es tatsächlich die Oberstufe der chinesischen Langer-Marsch-Rakete war, die am 4. März mit einer Geschwindigkeit von etwa 9.290 Kilometer pro Stunde auf dem Mond traf. Doch damit sind noch lange nicht alle Rätsel gelöst. Warum schlug das Trümmerstück einen Doppelkrater? Vielleicht hat das etwas mit dem Taumeln der Rakete zu tun, das die Forschenden in den wechselnden Reflexionen des Sonnenlichts wahrnehmen konnten. Die Bewegung wirke, als wäre sie das Resultat einer zweiten, dem schweren Triebwerksblock gegenüberliegenden Masse.

"Etwas, das so lange im Weltraum umhertreibt, ist den Kräften der Erd- und Mondgravitation und dem Licht der Sonne unterworfen", sagte Campbell. "Wir hätten erwartet, dass die Raketenstufe ein wenig wackelt, insbesondere wenn man bedenkt, dass der Raketenkörper eine große leere Hülle mit einem schweren Triebwerk auf einer Seite ist. Aber diese Rakete taumelte einfach von einer Seite zur anderen – und zwar auf sehr stabile Weise."

Grafik, Mond, China
Teil der rekonstruierten WE0913A-Umlaufbahn (schwarze Kurve). Die Umlaufbahn des Mondes (graue Kurve) und die Position der Erde (schwarzer Punkt) sind als Referenzen eingezeichnet.
Grafik: Campbell et al., Planetary Science Journal

Ursache für Zwillingskrater

Die vernünftigste Erklärung wär die Annahme einer Masseverteilung, wie man sie von Hanteln kennt. Doch worin bestand das "Gegengewicht" am anderen Ende der Rakete, das offensichtlich einen zweiten Krater geschlagen hat? "Wir wissen, dass im Fall von Chang'e 5-T1 der Einschlag fast gerade nach unten erfolgte. Um zwei Krater von etwa gleicher Größe zu erhalten, braucht man zwei etwa gleich große Massen, die voneinander entfernt sind", sagte Campbell.

Um was genau es sich dabei gehandelt hat, wird wahrscheinlich ein Mysterium bleiben, so die Wissenschafter. Die Chinesische Nationale Raumfahrtbehörde (CSNA) hält sich dazu bedeckt und bestreitet auch weiterhin, dass es ihre Rakete war, die den Doppelkrater verursacht hat. (tberg, 23.11.2023)